Eine Begebenheit aus dem Leben Abigail des Liebenden

Eine Geschichte der Maria von Nazareth

Dem Venuskind

als Kete Parsenow fünf Jahre alt war

Als Abigail der Dritte noch ein Zebaothknabe war und viel, viel Sehnsucht hatte, ritt er auf seinem weißen Kamel in Begleitung seines Spielgefährten Salomein durch die Orte von Palästina und kam nach Nazareth. Dort saßen die Kinder der Reichen und Armen zusammen, alle auf den rissigen Steinstufen der Spieltreppe der Stadt und sangen ein wundersüßes Liedchen auf altnazarenisch-hebräisch. Und Jussuf setzte das kleinste der Kinder auf sein groß Tier und Salomein mußte das Verschen auf einen Schiefer schreiben von den lallenden Lippen des Kindes. So klang es:

 

Abba ta Marjam: Träume, säume, Marienmädchen –

Abba min Salihï: Überall löscht der Rosenwind / Die schwarzen Sterne aus.

Gad mâra aleijâ

Assâma anadir – Wiege im Arme dein Seelchen.

Binassre wa wa.

Lala, Marjam: Alle Kinder kommen auf Lämmern

Schû gabinahû, Zottehotte geritten

Melêchim hadû-ja. Gottlingchen sehen –

Lahû Marjam: Und die vielen Schimmerblumen

alkahane fi sijab. An den Hecken – / Und den großen Himmel da / Im kurzen Blaukleide!

 

 

***

Der Prinz von Theben, ein Geschichtenbuch von Else Lasker-Schüler. Paul Cassirer, Berlin 1920

Ab 1910 wendet sich Else Lasker-Schüler allmählich von der weiblichen Erzählposition ab und lässt Jussuf – der in etwa als biblischer Joseph genommen werden kann – zu Wort kommen.Im vorliegenden ziemlich archaischen Geschichtenbuch tritt Jussuf, der titelgebende Prinz von Theben, allerdings nur in der Geschichte Abigail der Dritte auf und stirbt am Ende dieser überschaubaren Episode. Folgerichtig ist in den nachstehenden letzten drei Geschichten des Buches höchstens von dem toten Prinzen die Rede.

Die erste Geschichte – Der Scheik – und die letzte – Der Kreuzfahrer – sprechen unter anderen jeweils die Sühne zwischen den Religionen an und machen somit das restliche, zumeist schaurig-schreckliche Geschehen ein klein wenig erträglicher.

„Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte“, sagte Gottfried Benn über Else Lasker-Schüler. Sie bewegte sich wie eine Märchenfigur durch Berlin und fiel mit ihrer exzentrischen Erscheinung auf.
Else Lasker-Schüler, geboren am 11. Februar 1869 in Elberfeld.
Weiterführend → 

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den wichtigsten identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.