Die schwelgerische Lust am Satzbau

Wenn ein neues Buch erscheint, lies du ein altes.

Arno Schmidt

A.J. Weigonis Werk ist ein Kassiber an die Nachgeborenen. Wir müssen die Hinterlassenschaft entziffern. Es ist die Komplexität der formalen Mittel, die seine Bücher so aufregend machen. verfügte über einen beeindruckenden Wortschatz, der jede Detailschilderung zum Erlebnis macht, ohne dabei mit intellektueller Potenz zu protzen. Dieser Romancier stand für das nicht Kategorisierbare, eine Offenheit gegenüber diversen Einflüssen und Traditionen. Einsamkeit ist der Modus, in dem seine Poesie konzipiert wurde. Für ihn war dieser Kontrast in seinen Arbeiten zentral. Er benötigte beides: Momente, wo er jedem Detail Beachtung schenken konnte, aber auch Momente, wo er jegliche Kontrolle abgab. Seine Poesie verfügt über eine enorme Imaginationskraft, ein phänomenales Erinnerungsvermögen und eine eruptive poetischer Ausdrucksenergie. Er treibt ein Umkehrspiel mit den Konventionen, das Konventionelle wird erklärungsbedürftig  und das Unkonventionelle wird als geläufig dargestellt ist. Literatur kann die richtigen Fragen stellen und Menschen innervieren, Dinge neu zu betrachten. Das Wichtigste ist der Impuls, sich nicht abzufinden die Welt als eine veränderbare zu denken. Diese Prosa ist gerade in ihrer Ökonomieverweigerung bemerkenswert, darin, wie sie Handlungsmacht und Bildraum nicht hierarchisch ordnet, sondern sich von der sinnlichen Evidenz einzelner Momente leiten läßt.

Die Vermehrung der Schreibweisen ist eine moderne Erscheinung, die den Schriftsteller zu einer Wahl zwingt, aus der Form eine Verhaltensweise macht und eine Ethik der Schreibweise hervorruft.

Roland Barthes

Die im Alltag kaum noch wahrgenommenen Dinge vermochte Weigoni so darzustellen, daß man sie wie zum ersten Mal betrachten konnte. Nicht nur der Inhalte und die Strukturen dieser Novelle sind durch Präzision und Gewissenhaftigkeit gekennzeichnet, sondern jeder einzelne Satz. Mit den Vignetten definierte Weigoni eine Literaturgattung neu. Er praktizierte damit mehr als das Schreiben, diese Novelle ist ein Sich-Einschreiben in die Welt. Er hat eine Prosa geschrieben, der das Unaussprechliche in Worte verpackt. Mit seinem Einfühlungsvermögen schafft er es, die Trauer, Depression und Schuldgefühle einer sonst so strukturierten und starken Frau zu beschreiben, der von heute auf morgen der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Diese Novelle handelt von Menschen, die sich und ihr Begehren fremd fühlen in der Zeit und Welt, die ihnen der Zufall des Schick­sals bestimmt hat. Die verschiedenen Blickwinkel dieser Novelle zeigen die Vielschichtigkeit der Themen Tod sowie Trauer auf und Weigoni schlußfolgert, daß nicht, wie leichtfertig behauptet, geteiltes Leid halbes Leid darstellt. In diesem 60-seitigen Band funkelt die fabulatorische Lust des Schriftstellers in Prosa auf, zugleicht zeigt sich hier der letzte Romancier des skeptischen Weltbürgertums. Diese Novelle war mehr als ein Vorspiel, sie war eine klug konzipierte Hinführung zu den längeren Erzählstrecken.

Das mittlere Prosawerk: Ein Konzeptalbum!

Manchmal diagnostiziert die Literatur das Unbehagen der Zukunft. Weigoni ist ein sarkastischer Humanist der Poesie, bei ihm gibt es nicht einfach nur Täter und Opfer, seine Figuren sind höchst lebendige Ergebnisse ihrer Soziologie. Seine Erzählungen und Novellen haben einen Matrjoschka-Charakter, in virtuos ineinander verschachtelten, zwischen historischen Ereignissen springenden Erzählpäckchen führte dieser Romancier sämtliche Schicksale und Handlungsstränge weiter aus. Es ist ein Oszillieren zwischen Hoch und Tief, zwischen Ironie und Ausnahmezustand. Hier werden intelligenter Witz, brachiale Fabulierwut und gestalterischer Ernst grandios und unaufgeregt vermischt. Seine Figuren taumeln durch karge Landschaften, ständig auf der Flucht: vor der Armut, den gesellschaftlichen Zwängen, dem erdrückenden Kleinstadtleben, und auch vor der Liebe, die stets nur ein falsches Versprechen sein kann, wenn ihr das Leben in die Quere kommt. Diese Erzählungen sind alles andere als Prekariats-Pornografie, sondern ein präziser Faustschlag aus dem Pandämonium der Deklassierten; und dies ohne Elendsbukolik oder Larmoyanz. Es sind Meisterwerke des lakonischen Alltags–Realismus. In den neuen Filmen sind Zombies neben ihren Vampir- und Werwolfkollegen eine Allegorie der menschlichen Urängste und verdrängter Triebe, funktionieren sie in diesen Erzählungen als Katalysator gesamtgesellschaftlicher Diskurse:

Wie reagiert der Einzelne auf den Ausnahmezustand?

Was ist er bereit, für die Gemeinschaft zu geben?

Wie gehen Regierung und Medien mit Informationen um?

Dieses Konzeptalbum bietet vieles zugleich: Poesie, Krimi und Gesellschaftssatire. Der Autor legt den Akzent auf die Ambivalenzen menschlicher Existenz und der globalisierten Gesellschaft. Er begreift die Gegenwart als eine in jedem Buch immer wieder radikal neue Herausforderung für das Erzählen. Den Lesern eröffnet er damit literarische Räume, in denen sie sich selbst und ihre Welt besser begreifen können. Diese Novellen und Erzählungen sind voller Absurditäten und Abgründe, aus denen unerwartete Bilder und feinsinnig-lakonische Sätze hervorleuchten, sie sind ein ideenreicher und packender Versuch, die Gegenwart einzufangen, mitsamt ihren schrillen Dissonanzen. Ihre volle Wirkung entfalten die Texte in rhizomatischer Narrativik, sodaß man von einer gut durchstrukturierten Gesamtkomposition sprechen kann. Es eine labyrinthische, aber wohlgeordnete Welt, bei der die Antwort auf jede Frage zugleich der Zugangscode zur nächsten, größeren Frage ist. Hinter Weigonis Genrestudien offenbaren sich anspielungsreiche, intelligente Studien über Moral. Die meisten Geschichten zeigen Menschen und deren Lebenslügen und Lebensträume, ihre Furcht, etwas nicht mehr zu schaffen respektive zu sehen oder jemanden nicht mehr zu erreichen. Der Feingehalt an Surrealem, das als Spurenelement jeder einzelnen Erzählungen der Zombies innewohnt steigt in Cyberspasz zu beachtlicher Konzentration an. Weigoni zeigt Parallelwelten, über die wir zwar gern sprechen, die wir aber in Wirklichkeit nicht wahrhaben wollen.

Lebenslänglich zu Rheinland verurteilt.

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Diese Prosa bildet das Leben nicht nur ab, sie wird selbst zu verschriftlichtem Leben, indem sie die Realität in eine konsistente ästhetische Form überführt und damit aus den zeitlichen, körperlichen, sozialen oder politischen Determinierungen löst. Die Systemkritik, die Weigoni seinen Roman einschreibt, ist über weite Strecken Sprachkritik. Seine Protagonistin erkennen, daß Sprache ein ideologisches Konstrukt ist, um die Realität dahinter zum Verschwinden zu bringen. Daß Romane, die ein geschichtliches Ereignis thematisieren, immer schon Geschichte mitkonstruieren und folglich reflektiert werden müssen, zeigt Abgeschlossenes Sammelgebiet sehr eindrücklich. Weigoni will der Einzigartigkeit seiner Figuren gerecht werden, dafür sucht und findet er in jedem Novelle und und in jeder Erzählung individuelle Tonfälle, Sprechweisen, Erzählhaltungen. Realismus und Phantasmagorie, Gewalt und Poesie, Pathos und Distanz sind die Pole, zwischen denen er sich seit bewegt. Und wie seine Figuren lassen sich auch ihre Werke nicht über einen Kamm scheren. In seinem ersten Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet stellt Weigoni die Welt auf die Vergänglichkeitsprobe. Hier vermag er den hohen Ton mit harten Wahrheiten vereinen, den Kalauer mit den Katastrophen, den Einspruch wider die Gegenwart mit der Erinnerung an ihre Herkunft. Zwischen November 1989 und März 1990 komprimiert sich deutsche Geschichte unter dem Druck der Ereignisse. Der Riß durch die Gesellschaft und in den zwischenmenschlichen Beziehungen wird in dieser Prosa deutlich. Er erweist sich als Meister der Doppelcodierungen, Umdeutungen und Travestien und zeigt, daß die Zeit, die Geschichte, ein Land mehr macht mit einem Ich als ein Ich die Zeitläufte oder die Geschichte eines Landes bestimmen kann. Es war seine Lust, die Paradoxien des Daseins durchzuspielen und dabei jede Art von Gewissheit zu pulverisieren: Wir sind, was uns unterläuft.

Man ist ganz erstaunt zu sehen, dass diese Leute, die so viele Dinge beschrieben haben, nur gesagt haben, was jeder schon wusste; dass sie am anderen Ende der Welt nur wahrzunehmen gewusst haben, was sie hätten bemerken können, ohne ihre Strasse zu verlassen.

Jean–Jacques Rousseau

Entgegen eines weit verbreiteten Klischees schreibt „das Leben“ keine Geschichten, dazu bedarf es der Kunst des Erzählens. Was alle Zombies-Narrative gemeinsam haben ist die Gewissheit, daß jede Zuflucht nur eine temporäre sein kann, daß die Starre vermosten Bonner Republik der Bewegung weichen muss. Das Schöne an der Genrebezeichnung Roman ist, dass sich vieles darunter subsumieren läßt. Diese Offenheit nutzt Weigoni in vollen Zügen. Erstaunlich, was in den Lokalhelden alles Platz hat und vom lapidaren, die größte Katastrophe mit einer knochentrockenen Ungerührtheit kommentierenden und trotzdem nie empathielosen Ton zusammengehalten wird. Feuilletons, Anekdoten, Collagen, Kalendergeschichten, historische Skizzen, Kurznovellen, Short-Short-Stories, Kurzporträts und alles (wie der Rheinländer sagen würde). Hier verbindet sich sprachliche Wucht und erzählerischer Hochintelligenz. Auch sein zweiter Roman Lokalhelden läßt sich als Heimatroman deuten. Das Rheinland ist eine Erzählung, in der die unterschiedlichsten, teilweise auf unerträgliche Weise idiosynkratischen Menschen ihren Platz haben und die dennoch als Ganzes funktioniert. Diese fortschreitende Zerfaserung der Plausibilität vermag Weigoni mittels mikroskopisch genauer Schilderung der Lebenswirklichkeit der Reinländer auszugleichen. Der Roman lebt somit weniger von der Handlung, als vielmehr von den Figuren und Weigoni besonderer Erzählweise. Er besticht vor allem durch die präzisen und liebevollen Beschreibungen der Umgebungen und Zustände, durch die eigensinnigen Charaktere und all die skurrilen und irrwitzigen kleinen Geschichten, die er erzählt. Der Mensch als soziales Wesen findet hier seine Darstellung in virtuos gesponnenen Handlungsfäden, in einem Netz aus Aktion und Reaktion. Auf einer weiteren Ebene beschreibt dieser Roman  die neue Unübersichtlichkeit der Welt nach dem Ende des „Kalten Krieges“. Weigoni verzichtet beherzt auf die Illusion einer kohärenten Erzählung, um ein wunderliches, vielstimmiges und multiperspektivisches Durcheinander anzurichten, das gleichwohl beständig offenbart, wie eines mit dem anderen zusammenhängt. Diese Prosa ist auf unangestrengte Weise komisch, aber selten Satire im eigentlichen Sinne. Man merkt ihnen die Absicht nicht an. Die Pointen haben so etwas grandios Beiläufiges, als erwüchse das Komische ganz organisch dem Dargestellten beziehungsweise noch öfter im Dialekt. Die Absage an das Konzept der Innerlichkeit sei sowohl das philosophische als auch das ästhetische Programm des Romans. Diese Prosa handelt auch davon, wie sich Menschen durchs Erzählen neu erschaffen oder zumindest eine Version von sich selbst zu Leben erwecken, die ihrer inneren Wahrheit entspricht. Der Roman ist aber auch  die dichterische Summe von Weigonis ästhetischer Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie und den literarischen Strömungen nach der Jahrtausendwende. Es ist ein Dickicht aus Geschichten, Zeitgeschichte ein Ineinander. Der Abkehr von der „Deutschen Innerlichkeit“ korrespondiert mit dem vitalistisch rheinischen Lebensbegriffes und unter dem Eindruck der Existenzphilosophie die Hinwendung zur äusseren Wirklichkeit.

Was nie geschrieben wurde, lesen.

Hugo von Hofmannsthal

Die Erzählungen, Novellen und Romane sind Geschichte(n) aus reiner Gegenwart. Ob Dichtung der Geschichte oder Geschichte der Dichtung zu dienen hat, bleibt eine offene Frage. Als Knacknuss hat Weigoni der Edition seinen letzten Roman überlassen.

 

 

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Coverphoto: Leonard Billeke

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Eine Werkübersicht über die akustische Kunst finden Sie in der Reihe MetaPhon.

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