Erich Fried, zum 100.

 

Unvergeßlich ist mir das Zusammentreffen mit Erich Fried am 16. September 1987 in Wien. Wir hatten das Treffen telefonisch vereinbart. Es ging um meinen Fotogedichtband „Farbenlehre“, in dem ich mich mit dem Thema des Holocaust und mit dem ehemaligen KZ Mauthausen befaßte und dem ich den Untertitel „Gedichte gegen das Vergessen“ geben hatte wollte. Doch genau diesen Untertitel fand ich auf einem Gedichtband von Erich Fried. Also konnte ich diesen Untertitel nicht mehr verwenden. Daher schrieb ich an Erich Fried nach London, auch mit der Frage, was ich jetzt tun solle und ob er mir vielleicht einen Vorschlag machen könnte, diesen Untertitel so zu formulieren, daß er zwar die gleiche Aussage beinhalte, aber kein Plagiat darstelle. Fried ließ mir über den Alekto Verlag in Klagenfurt ausrichten, ich solle ihn in London anrufen, was ich dann auch vom Postamt in Treibach-Althofen, wo ich gerade zur Kur war, tat. Ich wählte die mir übermittelte Nummer, es tutete eine Weile, dann meldete sich eine dunkle Stimme mit „Fried“. Ich nannte meinen Namen, er wußte sogleich Bescheid. Wir kannten einander von der Begegnung beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongreß 1981 in Wien.

In der Wohnung eines Freundes von Erich Fried, in einem Haus am Wiener Naschmarkt, sollte ich ihn zum vereinbarten Termin nach vorherigem Anruf aufsuchen. Fried war damals schon sehr krank und sichtbar schlecht beisammen. Trotzdem nahm er sich nicht nur Zeit für mich, sondern ging in einer mehr als einstündigen Sitzung mit mir das Manuskript „Farbenlehre“ durch. Ich bin – wenn man das ausnahmsweise so sagen darf – stolz darauf, daß ihm das Manuskript, daß ihm meine Gedichte und Fotos von Mauthausen gefallen haben, ja daß er davon sogar beeindruckt war, wie er mir versicherte. Mit der Vorgangsweise einer poetischen Textanalyse gingen wir gemeinsam Gedicht für Gedicht durch. Er machte ein paar Vorschläge bezüglich Wortwahl, die wir gemeinsam besprachen. In einem Gedicht heißt es „warte noch ein weilchen/ in diesem chaos/ in diesem kinderspiel/ von leben und tod“. Er schlug anstatt des Wortes „Weilchen“ die Formulierung „warte noch eine Zeitlang“ vor. Ich erklärte ihm aber, daß es sich bei meiner Wortwahl um eine assoziative Version des volkstümlichen Spruches „Warte noch ein Weilchen, bald kommt er mit dem Hackebeilchen und macht Schabefleisch aus dir!“. Ich weiß gar nicht, in welchem Zusammenhang – vielleicht eines Sprichwortes – das vorkommt, jedenfalls mußte meine Formulierung davon bestimmt gewesen sein; also das Unbewußte oder Unterbewußte im eigenen Gedicht. Natürlich war und ist das in diesem Textzusammenhang und in dieser Assoziation eine Metapher für den Tod. Darauf wies ich Erich Fried hin, und das interessierte ihn auch. Er dachte eine Weile nach und sagte schließlich: „Dann lassen wir das, es ist gut so.“ Gegen Ende unserer Sitzung nickte Fried, als ich ihm einige Gedichte vorlas, für einen Augenblick ein, war aber sogleich wieder wach, als ich mit dem Lesen aufhörte. Er rief seine Begleiterin, eine junge Frau, herbei und bat sie aufzuschreiben, was er formulieren würde. Und ohne daß ich ihn darum gebeten hatte, diktierte er sein Vorwort für meinen Fotogedichtband „Farbenlehre“, autorisierte das Diktierte auch noch mit seiner Unterschrift.

So habe ich Erich Fried in Erinnerung: bedachtsam, ruhig, entschieden, aber auch ob seiner Empörung über etwas erregt protestierend; wie zum Beispiel beim Ersten Österreichischen Schriftstellerkongreß in Wien, als er davon sprach, was ihn all die Jahrzehnte hindurch daran gehindert habe, nach Österreich zurückzukehren. Nämlich daß Österreich und die meisten Österreicher, vor allem die Regierungen und die Politik sich immer noch auf jene tradierte kollektive Geschichtslüge ausredeten, daß Österreich nur ein Opfer des Hitler-Nazitums gewesen sei, und sich nicht zu ihrer Verantwortung auch als Täter oder begeisterte Anhänger des Nationalsozialismus bekannten. Eben daß Österreich seine eigene Geschichte aus jener Zeit nicht aufgearbeitet hatte, sich auch in den Achtzigerjahren noch davor drückte, ja gar nicht bereit war, endlich sein eigenes Beteiligtsein und seine eigene Geschichte aufzudecken und aufzuarbeiten. Damals gab es einen erregten Tumult im Rathaussaal. Davon gibt es ein Foto, auf dem ich mit Erich Fried in unserer gemeinsamen Empörung zu sehen bin.

Immer wenn ich ein Buch von Erich Fried sehe oder an seinem ehemaligen Gymnasium in Wien vorbeigehe oder wenn ich mit etwas Wesentlichem nicht zurechtkomme, denke ich an sein wunderbares Liebesgedicht mit den Sätzen: „Es ist was es ist…“. Dieser Satz ist für mich zu einer Chiffre geworden, sowohl für die Infragestellung als auch für die Akzeptanz von Wirklichkeit.

 

 

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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Photo: Margit Hahn

Weiterführend → Das oben erwähnte Vorwort von Erich Fried lesen Sie hier.

KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.