gedichte aus der kranken menschenwelt

 

hans-ulrich prautzsch, der ein ebenso inniges verhältnis zur literatur wie zur bildenden kunst und insbesondere zum buchdruck und zur grafik hat, debütierte 1989 mit dem prosaband »Fünf Desperados und eine Rothaarige« beim »Hinstorff-Verlag« rostock und gab von 1991 bis 2005 die Uräus-Handpresse in halle an der saale heraus. 2003 erschien der gedichtband Gewolltes Blauauge bei der »Corvinus Presse« berlin, 2004 »Unter den Aschen erloschener Feuer« bei der »Sonnenberg-Presse« chemnitz und kemberg. das »Lyrik Heft 27« enthält lyrik aus den jahren 1977 bis 2018. die lyrikhefte gibt es seit 2005, unter anderem mit ausgaben von richard pietraß, thomas böhme, andré schinkel und andreas altmann.

prautzsch schreibt über soziale und medizinische krankheiten und deren folgen, die durch das gift der realwelt entstehen. die sozialen sind menschengemacht, aber auch manche medizinischen das werk des menschen. im gedicht »In der Diakonie« erzählt er vom auftauchen der todesprophetischen krähen, die er nachsichtig betrachtet, da sie von ihrer symbolwirkung nichts wissen: »Lautlos nahezu schweben sie ein / ins Geäst der abgelaubten Platanen, / die der Nacht und dem Tod zugeordneten / schwarzgefiederten Tagvögel, die doch hier nur schlafen wollen.«, und setzt fort: »Ich rauche trotz Verbot / die zweite Zigarette in Kette.« den lebensgenuß, hier das rauchen, wie anderswo das kaffeetrinken, läßt er sich auch krank nicht nehmen.

»wer arm ist, begehrt, und wer begehrt, zieht ein Schicksal auf sich.«, schrieb c.g. jung. das benennt eine fatalität der normalität. was schicksal heißt, ist meist, von der last der gerade aktuellen wirklichkeit hervorgerufen, die konsequenz des individuellen und kollektiven wiederholungszwangs der konformistischen mehrheit, der auch andere unfrei macht. »Wem es gelingt, seinen individuellen Narzißmus zum Gruppennarzißmus werden zu lassen, der kann denselben Narzißmus ausleben, ohne verrückt zu werden, weil er ja von allen in seinem Gruppennarzißmus bestärkt wird.«, analysierte erich fromm. menschen wachsen von vornherein gruppennarzißtisch auf, wobei das kollektive das individuelle häufig verflacht und vergröbert.

manche meinen, unrecht sei der normalzustand unter menschen. es gehört zu den erfahrungen von hans-ulrich prautzsch, unter schwierigen umständen zu leben, denen er sein kämpfernaturell sowie seine Solidarität der Solitäre entgegensetzt. der dichter steht ohnehin immer am außenrand realer welten. armut ist eine gesellschaftliche krankheit, die andere krankheiten erzeugt. zudem sind die psychisch gesunden oft die ideell kranken, und umgekehrt. die griechen der klassischen antike, die glaubten, nur in einem gesunden körper wohne ein gesunder geist, waren begabte, sympathische und naive kinder. schon die gnostiker, oder pneumatiker, sahen manches problematischer, und juden sowieso, da sie historisch dachten, nicht zuletzt weil sie besonders intensiv und unerträglich die grunderfahrung der menschheit und jedes sensiblen und klugen einzelnen menschen durchlitten hatten, die der vertreibung und des vertriebenseins. erwachsen werden bedeutet erst einmal, die verkehrtheit der welt zu erkennen.

in Heiliger November schreibt er: »weil nur, wer ALLES aufgibt, neu beginnen kann.« wem alles fehlt, der darf auf alles hoffen. dies zu sagen, klingt freilich zynisch. in »Resümee« lesen wir: »Das / Vorläufige läßt hoffen.« jede veränderung ist zunächst unwirklich. der autor sieht im vorläufigen das unabgegoltene. »Laß ich dem Fluß die Flasche. Die / Treibt, im leergesoffnen Bauch Auf / Einem Zettel ein Stück Traum, der / Reicht weit, den Fluß hinab ins Meer.« kann man die eigenen hoffnungen immer nur ins unbekannte hinein, als flaschenpost, die nur eventuell ankommt und gefunden wird, auf die reise schicken? der sinn von utopien besteht weniger im glauben, daß sie realisierbar seien, der schnell irreleitet, sondern in der notwendigkeit eines geistigen vorlaufs und des voraussehens künftiger chancen und gefahren. indem sie das vorhandene am idealen, besseren, freieren, gerechteren messen lassen, sind sie ein kritikpotential jeder gegenwart gegenüber.

literarisch anregen ließ sich prautzsch, der auch alltagssprache, bis hin zum jargon, lyrisch nutzt, neben françois villon, seinem ur-vorbild, und erich mühsam sowie dem frühen hans magnus enzensberger und peter rühmkorf, von lyrikern der »Sächsischen Dichterschule« wie volker braun, auf den das gedicht »Resümee« anspielt, karl mickel oder richard leising, zudem heiner müller, der ebenfalls aus sachsen stammte. viele, nicht alle, der texte der zuletzt genannten sind aufklärerisch, geschichtsphilosophisch, analytisch, aufs wesentliche konzentriert, nüchtern, worin vielfache ernüchterung mitwirkt, kühl, klar, knapp, direkt, rhythmisch, kantig und herb, handwerklich genau und oft zugleich kunstvoll gebaut, aber ohne formale pirouetten. man nahm oder nimmt vielfach plebejische blickwinkel ein und beschreibt die welt aus der perspektive derer, die geschichte als objekt erfahren, also von unten, und kritisiert die jeweils herrschenden verhältnisse. heiner müller notierte in seinen letzten lebensmonaten, schon schwer krank, extrem verknappte gedanken, wie für »Ajax zum Beispiel« von 1995, wo er illusionslos feststellte: »Die Staatsgewalt geht vom Geld aus.«, »die Zeit / steht als Immobilie zum Verkauf.«, »Arbeit macht unfrei.« und »Das letzte Kriegsziel ist die Atemluft.« so verabschiedete er sich von einer welt der unfreiwillig freiwilligen selbstentfremdung.

zudem entdeckt man bei prautzsch eine nähe zu amerikanischen lyrikern wie william carlos williams, charles bukowski oder allen ginsberg. williams, der armenarzt war, schrieb minimalistische gedichte wie »Frühstück: »Zwanzig Spatzen / auf // einem Fladen / Mist: Leben und / leben lassen.« und »Völlige Zerstörung«: »Es war ein eiskalter Tag. / wir begruben die Katze, / trugen die Kiste hinaus / und verbrannten sie // im Hinterhof. / Was den Flöhen entkam, / der Erde, dem Feuer / ging an der Kälte ein.«

der maler und grafiker uwe pfeifer, den man der »Leipziger Schule« der bildenden künste zurechnet, nähert sich mit seinen holzschnitten im lyrikheft dem minimalistischen der gedichte von prautzsch an und greift dessen motive auf, teils auch ironisch. zum gedicht »Hymne auf meine Stammkneipe in schlechten Jahren«, es gibt mehrere kneipentexte, schuf er eine grafik mit einem wie ein sonnenodervollmondgesicht lachenden tisch samt zigarette im mund und biergläsern ringsum, worüber rauchende zigaretten schweben.

mit wenigen veränderungen könnte aus dem gesicht heute eine darstellung des corona-virus werden. inzwischen gibt es corona-torte, corona-kekse, corona-brötchen, corona-eis, corona-tapeten und corona-luftballons. eine corona-torte gabs zum beispiel bei »quer«, nicht zu verwechseln mit verqueren agitatoren und gläubigen, zum ersten geburtstag von covid-19, wo die brennende kerze mit einer wasserspritze gelöscht wurde, in der wahrscheinlich ein desinfektionsmittel war. wegen corona darf man ja nicht pusten.

»Am Rande des Wahnsinns / Erwischt mich jetzt auch noch / Die sattsam bekannte / Gefährtin Podagra.«, heißts im gedicht »In der Entgiftung«. lukian von samosata, der griechisch schreibende satiriker syrischer herkunft aus dem postmodernen zweiten jahrhundert, verfaßte das böse gedicht »An das Podagra«, gerichtet an die göttin podagra: »Du große Bettlerfeindin, Göttin, die / Allein den Übermut des Reichtums zähmt, / wer weiß das Leben leichter sich zu machen / als du? Du gehst sogar auf – fremden Füßen, / und niemals darf es dir an – Salben fehlen, / an Kränzen nie, noch an auson’schem Weine / Bei Bettlern findet sich das alles nicht: / drum fliehst du der Armut kahle Hütte / und legest dich den Reichen nur – zu Füßen«. bettler bekommen sprichwörtlich nicht podagra, wohl wegen ihrer ernährung. völlerei, die bei bettlern selten sein dürfte, soll zu fußgicht führen. wer wenig ißt, bekommt also manche krankheiten nicht, dafür andere.

bereits 1989 erwähnte prautzsch im gedicht »Abgesang« ozonloch und klimawandel: »Dank dem Ozonloch darf ich / Mitten im grimmen Winter / Unter einem schamlos blauen Himmel / Und einer geil gleißenden Sonne / Einen übernächtigten Suffkopp spazierenführen, / Den ich habe«. wenn jemand, der in 2000 jahren lebt, den heutigen menschenpark sähe, würde er vermutlich ebenfalls sagen, daß ihm die seltsamen zweibeinigen ungeflügelten wesen darin in ihrem verhalten zugleich befremdlich und bekannt vorkommen.

vor 6000 jahren begann der mensch die erde zu verändern, indem er das freie umherstreifen der jäger und sammler aufgab und verlor, seßhaft wurde und sich, vor allem durch die viehzucht und das speichern der ernteerträge, zahlreiche krankheiten ins haus holte. vor 500 jahren expandierten europäische völker mit ihren kolonialistischen eroberungen nach amerika, was 80 bis 90 prozent der indianischen bevölkerung nicht überlebten. es folgten raubbau an der natur, zerstörungen der natürlichen gleichgewichte, erdwasserundluftverschmutzung, klimawandel, artensterben und pandemien. wenn wir alles zugrunde richten wollen, müssen wir nur so weitermachen wie bisher. das eis im nordpolargebiet taut inzwischen schneller ab, als von klimaforschern befürchtet. die menschheit hat auf ihrem eigenen planeten wirkungen wie einschläge von meteoriten oder asteroiden. wenn man sieht, was menschen auf der erde anrichten, möchte man hoffen, mehr saurier hätten überlebt.

in »Postfaktisch« von 2016 schreibt er: »Die Zeitgeistpupser jeglicher Couleur / wollen nunmehr postfaktisch verstanden sein / Wer aber kennt schon die Fakten – die Statistiken, die selbst / postfaktisch nicht zu deuten sind.« unwahrheit und lüge gab es bereits früher, auch in medien, siehe das sprichwort »Lügen wie gedruckt.«, das ursprünglich die presse meinte. »Lügenpresse« rufen jetzt jene, die womöglich zu lange glaubten, etwas sei wahr, bloß weil es in der zeitung steht. schwindel und hetze erscheinen heute nur anders und erreichen schneller eine größere wirksamkeit.

menschen können das meiste, zu dem sie sich äußern, nicht wirklich objektiv bewerten, da sie es konkret gar nicht oder lediglich oberflächlich und ungenau kennen. daß sie dennoch urteile darüber fällen, gilt als normal. in meinungsumfragen werden häufig ressentiments und stimmungen abgefragt. alle haben jene vorurteile, und damit, voreingenommen, also vereinnahmt, häufig fehlurteile, die ihnen nutzen. werden solche urteile kollektiv, können ganze menschengruppen den verstand verlieren. auch postmoderne menschen bleiben daher von raubtieren bedroht wie urmenschen.

gegenwärtige verschwörungstheorien sind eine neue form der alten vorurteile. je komplexer und komplizierter eine gesellschaft ist, umso perfekter und raffinierter verbirgt sie strukturen und methoden ihrer machtausübung. das gewerbe der lügenundbetrugsberater boomt. da muß man sich über verschwörungserfinder und verschwörungsgläubigkeit nicht wundern. manche gedichte scheinen den illusionsverhafteten menschen brechts »Glotzt nicht so romantisch!« zuzurufen.

 

 

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Lyrik Heft 27, von hans-ulrich prautzsch. »Sonnenberg-Presse«. chemnitz und kemberg, 2020

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KUNO widmet dem Gedicht auch in diesem Jahr den genauen Blick, das aufmerksame, geduldige, ins Denken gedrehte Lesen und Wiederlesen, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.