25 Jahre Herr Nipp auf KUNO

Herr Nipp de-real-isiert das Faktische und real-isiert das Fiktionale. 

Vor einem viertel Jahrhundert stellte Haimo Hieronymus einen Typ vor, die seither auf KUNO ein Eigenleben entwickelt hat. Bereits die erste Geschichte von Herrn Nipp zeigt eine melancholischen, zum Selbstmitleid neigenden Kauz. In den folgenden Jahren meldete sich der Sauerländer ein bis zweimal monatlich etwas neurotisch, aber höchst empfindsam zu Wort, und agiert als biederer Alltags-Protagonist durch schluffige short – manchmal auch very short – stories. Die Realität funktioniert im Sauerland als Eldorado der Fiktionen, das ursprüngliche Sprachverständnis schwankt zwischen den Stadtteilen Neheim und Hüsten zwischen Leichtgläubigkeit und Argwohn. Seine kurzweiligen und zuweilen ironischen bis zynischen Kommentare zum Erleben der Welt nutzt der Autor und Künstler  normalerweise auf der Internetseite von Herrn Nipp, um Lücken zwischen den Geschichten und Gedichten zu schließen, welche dort regelmäßig veröffentlicht werden. Die argwöhnische Haltung von Herrn Nipp belegt, daß Misstrauen und Spottlust ein Zeichen von solider Gesundheit sind. Als Westfale kommt Herr Nipp gern von Hölzchen aufs Stöckchen und glosiert mitunter entlarvend unsere zivilisatorischen Errungenschaften.

Erzählen ist etwas anderes als Information.

Alexander Kluge

Zwischen 1994 und 2019 begleitete uns Herr Nipp mit unerhörten Geschichten. Wie lesen im KUNO-Archiv glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das auf ein Geschehen verweist einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten verweist. Herr Nipp geht offenen Auges durch die Welt. Sein Sehen, Besehen und Beobachten ist der Ausgangs- und Angelpunkt. Haimo Hieronymus ist ein Poet, wenn er Holzschnitte erstellt, und ein realistischer Träumer, wenn er in Kooperation mit Herrn Nipp kurze Texte verfaßt. Wie ein Dichter schreibt er nicht, dazu ist er zu nüchtern und zu lapidar; die Fiktion ist nicht seine Sache, es entstehen auch keine imaginären Welten. Die Wirklichkeit und die Erinnerung sind ihm rätselhaft genug. Herr Nipp betreibt das einfache, das wahre Abschreiben der Welt, er bewegt sich damit zwischen Ereignis und Reflexion und nähert sich einer Topografie der Melancholie. Und dies auch im Buchformat. Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich unterdessen die Vorzugsausgabe von Die Angst perfekter Schwiegersöhne (2011) entwickelt. Hieronymus hat das Cover einer limitierten Auflage mit einem Holzschnitt versehen.

Wir haben die Kunst, damit wir an der Wahrheit nicht zugrunde gehen.

Friedrich Nietzsche

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts muß man keinen Falken mehr verzehren, um novellistisch tätig zu sein. Dank des Kurznachrichtendienstes Twitter ist Mikroblogging eine auflebende Form. Herr Nipp dampft die Gattung der Novellette in Unerhörte Möglichkeiten (2012) zu Twitteratur ein. Alle Forderungen der Literaturwissenschaft werden in wenigen Wörtern eingehalten: Zentraler Konflikt, Leitmotiv oder Dingsymbol, straffe und vorwiegend einlinige Handlungsführung, das pointierte Hervortreten eines Höhe- und Wendepunktes, stark raffender Handlungsbericht, besondere Vorausdeutungs – oder Integrationstechniken, Zurücktreten ausführlicher Schilderungen äußerer Umstände oder psychischer Zustände, hohes Maß an Objektivität, doch trotzdem subjektive Erzählhaltung usw. (siehe Metzler Literatur Lexikon, 1984. Seite 308ff).

Bücher sind eine ´Ware`, die kein Mindesthaltbarkeitsdatum tragen.

Haimo Hieronymus präsentierte 2017 Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Wir finden in diesem Buch sprachliche Floskeln, die noch nicht etabliert sind, unverzeihliche Versprecher und Ausrutscher, die zu sprachlichen Kollateralschäden führen. Der Gang durch diese Notizen und zurück zu frühe Spracherfahrungen ist ein Abenteuer im Online-Archiv von KUNO. Es geht ihm um eine Natürlichkeit des Blicks, die sich nicht einer Grammatik unterzuordnen hat. Der Leser folgt den Bedeutungen der Wörter und reimt sich daraus eine Geschichte zusammen. Herr Nipp wäre fast in einer Vielzahl von intertextuellen Verweisungsbezügen verschwunden, dem „Verschwinden des Autors“ sieht sein Co-Autor jedoch gelassen entgegen. Neben dieser Twitteratur finden sich in schlüssiger Abfolge einige Zeichnungen und Aquarelle abgebildet.

Mit Herrn Nipp zu einer tieferen Unschlüssigkeit vorstoßen.

Nach allen Beobachtungen, die er seit 25 Jahren gemacht hat, sieht er, daß immer wieder die gleichen Prinzipien funktionieren. Zwischen Dichtung und Wahrheit und zwischen zwischen Fakt und Fiktion treffen wir bei Herrn Nipp auf die Fiktionalität der scheinbar nichtfiktionalen Texte. Der Sauerländer macht sich in seinem Notizbuch tiefschürfende Gedanken und schreibt auf, was sich als geballte Informationen herausstellen sollte. Seine short – manchmal auch very short – stories geben nicht das Sichtbare wieder, sie machen sichtbar und zeigen die Oxymora seines Schreibens: Ein Aperçu erhält Rahmen und Inhalt durch das, was in seiner Twitteratur vergessen gemacht wird, und so weiter und so fort…

Herr Nipp bleibt sich treu, seine Märchen sind wie das Leben selbst.

In ihrer aktuellen Kollaboration verbinden Stephanie Neuhaus und Haimo Hieronymus Fotographien aus der Natur und aktuelle Märchen. Dabei stehen in Neuhaus‘ Bildern die Pilze im Fokus. Aus sehr persönlichen Perspektiven fotografiert, wirken die organischen Gebilde wie aus der Zeit gefallen. Was wir als Pilze wahrnehmen, ist eigentlich vergleichbar mit Geschlechtsorganen, der eigentliche Pilz, das Hyphengeflecht, bleibt meistens unsichtbar, vor allem unfassbar. Um so erstaunlicher die Formenvielfalt allerorten. Pilze zerstören und ernähren, sie leben in Symbiose oder parsitär, sie erzeugen Gifte und Heilmittel und immer wirken sie uns irgendwie fremd. Keine Pflanze. Kein Tier. Heimlich und prächtig. Intelligent und unerbittlich. Ähnlich dem Myzel der Pilze verhält es sich mit Märchen. Sie ernähren sich aus Hoffnungen und Ängsten, aus überbordenem Leben und stumpfem Tod der Menschen. Sie sind nie hundertprozentig fassbar und wenn jemand glaubt, er habe sie wirklich verstanden, tauchen sie unerwartet in neuem Gewand auf.

Vielleicht ist dieses digitale Zeitalter der optimale Nährboden für ein neues Erzählen.

Herr Nipp verändert die Perspektive auf die Figuren und entdeckt neue Facetten und gelogene Wahrheiten. Es handelt sich bei diesen Flunkereien – oder sollte man besser von Märchenparodien schreiben? – um sorgfältig komponierte Miniaturen, funkelnde Prosastückchen, oft mit einer Pointe oder einer Gedankenbewegung, die gelegentlich auch eine autobiografische Erfahrung aus den finsteren Wäldern des Sauerlands aufgreift. Bitter und böse, verstörend manchmal, doch immer aktuell. Er findet hiermit sozusagen eine mögliche Quintessenz unserer Zeit.

 

 

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Gerade erschienen: Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp. Mit Fotos von Stephanie Neuhaus. Edition Das Labor 2019

Weiterführend → 

Porträt Herr Nipp, Holzschnitt von Haimo Hieronymus

KUNO erinnert im Zusammenhang mit der Katalog-Reihe der Edition Das Labor an die von Stephanie Neuhaus initiierte Super Speed Art Exhibiton Tour.
Vertiefend zum Nippiversum, Holger Benkel mit einem Rezensionsessay über die Prosaminiaturen von Herrn Nipp.
Zum Thema Künstlerbücher lesen finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421