Eine Dekonstruktion der drei linguistischen Metafunktionen: Holger Benkels Meißelbrut

KURZFASSUNG

Die in der systemischen Funktionsgrammatik postulierten drei linguistischen Metafunktionen werden in Benkels (2009) Gedichtband meißelbrut dekonstruiert, sowohl im Derrida‘schen Sinn einer Ausgrabung von Bedeutung als auch in der Umkehrung ihrer Konstruktion. Diese Metafunktionen führen normalerweise folgende Aufgaben aus: Die ideationale Metafunktion beschreibt Ereignisse, Zustände und Wesenheiten; die Zwischenmenschliche unterhält Beziehungen mit Anderen; und die Textuelle organisiert die Botschaft. Benkels ideationale Bedeutung jedoch, anstatt zu klären, wer wann was macht, mystifiziert mit paradoxen Metaphern. Anstatt die Rollen des Autors und Lesers zu wahren, wird die zwischenmenschliche Metafunktion durch die Abwesenheit eines festen erzählerischen Standpunkts unterminiert, und die Lesenden werden in eine wirbelnde Vielfalt hineingezogen, die ihre eigene Identität in Zweifel zieht. Schließlich, was die Textuelle betrifft, wird die konventionelle Thema-Rhema-Informationsstruktur durch ein Textchaos ersetzt, das sowohl nach hinten als auch nach vorne, nach innen und außen zeigt. Benkels Ziel ist es, unsere bequemen Annahmen über die „Realität“ zu destruieren und uns herauszufordern, alle Aspekte unserer Identität zu überdenken, indem wir die menschliche Physis in gewisser Weise ähnlich wie Margaret Atwood zersetzen. Dieser Artikel wird nacheinander untersuchen, wie Benkel dies durch jede der Metafunktionen fertigbringt, und zusammenfassen, welchen Effekt die drei zusammen erzeugen.

EINLEITUNG

In Hallidays systemisch-funktionalen Theorie realisiert die Lexikogrammatik drei Bedeutungstypen gleichzeitig: die ideationale (‚ideational‘ bei Halliday), die zwischenmenschliche (‚interpersonal‘) und die textuelle (‚textual‘) (Halliday, 1985/1994). Die ideationale Metafunktion verwirklicht erstens „unsere Erfahrung der Welt, einschließlich der Welten in unseren eigenen Köpfen, um Ereignisse und Zustände und die an ihnen beteiligten Wesenheiten zu beschreiben“ (Thompson, 2004:30). Die zwischenmenschliche Metafunktion ermöglicht uns zweitens, mit anderen Menschen zu interagieren, Beziehungen zu ihnen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, ihr Verhalten zu beeinflussen, unseren eigenen Blickwinkel auf die Welt zu bekunden und deren Wesen zu erkennen oder zu verändern. Schließlich organisiert die textuelle Metafunktion „unsere Botschaften auf eine Weise, die anzeigt, wie sie zu den anderen Botschaften in ihrem Umfeld und zu dem weiteren Kontext steht, in dem wir sprechen oder schreiben“ (idem).

Die Metafunktionen arbeiten in der Textverarbeitung durch eine stillschweigende Übereinstimmung zwischen Autor und Leser zusammen, basierend auf einem unausgesprochenen, aber kooperativen ‚Dialog‘, der den Autor dazu bringt, Fragen zu beantworten, die der Leser beantwortet wissen möchte. Dies kann anhand eines einzigen Satzes demonstriert werden. Aus der Sicht des Autors kann z. B. die interaktive Bearbeitung des Satzes „sie wurde letzte Woche vom Bankhaus Nat West entlassen“ folgendermaßen umschrieben werden:

„Die Gültigkeit der Informationen, die ich dir gebe, hängt davon ab, ob du akzeptierst, dass wir über etwas sprechen, was „ihr“ passiert ist; die Gültigkeit, die ich für die Informationen beanspruche, ist, dass sie für etwas in der Vergangenheit gültig sind (nicht Gegenwart oder Zukunft), dass sie absolut gültig (nicht modalisiert) sind und dass sie positiv (nicht negativ) gelten; und die Information, die ich dir über „sie“ geben will, ist dass sie letzte Woche von Nat West gefeuert wurde. Solange du die Gültigkeit der Informationen in diesen Bedingungen akzeptierst, können wir mit dem nächsten Schritt in dieser Interaktion fortfahren“ (Thompson, 2004:54).

Benkels meißelbrut problematisiert alle drei dieser konventionellen Bedeutungsaspekte. Selbst der tautologische Titel (Schinkel, 2009:1), bestehend aus den beiden Wörtern meißel und brut, zeigt sofort seinen Modus operandi – das Nebeneinander von unvereinbaren Elementen, oft weit entfernt von der gängigen Bedeutung. So lädt Benkel den Leser ein, eine semiotische Dekonstruktion im Sinne Derridas (z. B. Derrida, 1974) vorzunehmen, um die Botschaften seiner Poesie zu gründen. Wenn man sagen kann, dass ein lexikalischer Gegenstand eine Kernbedeutung besitzt, auf die sich alle Leute vielleicht einigen würden, so ist die Aura der assoziativen Nebenbedeutungen doch kontroverser. Es ist diese ‚Penumbra‘, die meißelbrut besiedelt, vorzugsweise an ihren äußeren Rändern. Dennoch ist Benkel nicht extrem und lebt nicht in Extremitäten. Er schwebt zwischen ihnen, hin und her fliegend, in einem Bereich, in dem die Assoziationen sich auf neue Weise vermischen können. Seine Gedichte führen den Leser in eine Zwielichtwelt der mystischen Mischwesen (Drube, 2009:89), irgendwo zwischen Alt und Neu, Schönheit und Verfall, Leben und Tod, die an Margaret Atwoods Reduktion der Frau auf das rein Körperliche erinnern, ein Tier, das die Oberfläche der Realität wie die Haut abstreift.

TEXTUELLE BOTSCHAFT

Es ist angemessen, dass wir die Reihenfolge, in der Hallidays Metafunktionen gewöhnlich präsentiert werden, umkehren, indem wir von der textuellen zur ideationalen Bedeutung übergehen, erstens weil dies am besten dem ersten Zugang des Lesers zu den Gedichten entspricht und zweitens, weil es mit dem Gedanken und der Methodik von meißelbrut übereinstimmt. Da Benkel die Gedichte immer zentral ausrichtet, bestehen diese Texte grafisch nicht aus Strophen, sondern aus vagen schattenhaften Gebilden, von denen einige geometrisch, andere tierisch, andere anthropomorph erscheinen. Diese visuellen Formen geben dem Leser erste Eindrücke, verstärkt durch Sabine Kunz‘ Holzschnitte, die die Gedichte in dem Gedichtband begleiten und selbst an dem Unbewussten entstammende Ungeheuer erinnern. Zumindest können dies die ersten Eindrücke des Lesers sein. Allerdings werden solche Gedichte in akademischen Abhandlungen (z. B. Torso, Band 40) nicht immer originalgetreu nachgedruckt. Stattdessen richten die Herausgeber sie oft nach links in der irrigen Vorstellung aus, dass sie sie ‚aufräumen‘ sollten. Das beste Beispiel für eine Form, die auf diese Weise verloren geht, ist die von Tiere (Benkel 2009:14), die einer aufrecht gehenden Kreatur mit großem Kopf, kleinem Torso und breiten Füßen ähnelt:

mensch der einst noch selber blinde kuh geschöpfe die er sprechen hörte zähmte
rief als er gebot herab die höheren wesen darin schuf er den schlachthof das rohe in uns töten wir fortan die kreatur im eignen blut
wie eine krankheit um die sünden auszulöschen wiederholen wir sie lebt die bestie rechnern hörig die gebären das andere subjekt den apparat
mit tierischem instinkt regelt das tempo
die räume des verkehrs der straßen
in rudeln den hormonentrieb der systeme gehetzt von bauch und unterleib
ist das geld der krieg eine symbiose
die fremdes zugleich vereint und scheidet
in der krippe des denkens sind lamm und kalb die beste nahrung essen wir embryos zuletzt und zeugen kadaver der natur im licht der sonne vorverdaut kehren wir zur mutterbrust zurück werden die glieder durch tierhaut gezogen
seh ich mein abbild an der wand
lös ich mich von meinem schatten
spring ich aus dem rumpf und frage
wozu brauchen geister leiber wenn ihr kopf genügt schlag ich ihn ab sagt er mir das ende voraus greif ich nach den organen erwarten mich wächter in den himmeln glaub ich lebt kein wild ohne wagen

Die Form des Gedichts ist kein zufälliges ‚Gimmick‘, da es für den Leser bald offensichtlich wird, dass Benkel systematisch bestimmte Aspekte der konventionellen Graphologie ablehnt. Er verwendet keine Großbuchstaben oder Satzzeichen. Die traditionelle visuelle Unterscheidung zwischen Substantiven (mit einem Großbuchstaben) und anderen Teilen der Sprache, die im Deutschen die Proposition und Prädikat explizit machen, ist bei Benkel aufgegeben, was zur Folge hat, dass konkret und abstrakt, Realität und Ideal symbolisch zusammengeführt sind.

Die grammatische Struktur der Informationen wird in das transformiert, was Drube (2000:42) „janusköpfige Syntax“ nennt, und gleichzeitig rückwärts und vorwärts verknüpft, um die Vielfalt der Realität vor Augen zu führen. Der Effekt ist eine Konstruktion von ‚Chunking‘ oder ‚Layering‘, ähnlich der Collage oder vielleicht dem frühen Kubismus von Braque und Picasso. Unterdessen zwingt das Fehlen von Pausen den Leser, der sich bemüht, die Konzepte zu verarbeiten und einen Überblick zu gewinnen, bis zum Ende des Gedichtes zu eilen und das Ganze auf einmal zu verschlingen. Die Bedeutung hiervon wird in der systemischen Funktionstheorie erklärt: Informationen werden normalerweise durch Kategorisierung entweder in ‚gegeben‘ oder ‚neu‘ strukturiert und die Unterscheidung wird durch ihre Positionierung innerhalb des Satzes hervorgehoben. Das, was bekannt, gegeben, oder aus dem Text abrufbar ist, wird am Anfang des Satzes platziert, während unbekanntes Material später kommt. Diese beiden Teile des Satzes werden als ‚Thema‘ bzw. ‚Rhema‘ bezeichnet. Während das Thema einen Text verankert, die Thematik hervorhebt und angibt, worum es im Satz geht, kommentiert das Rhema das Thema (Halliday, 1985:39-54). Auf Diskurs-Ebene bilden Themen und Rhemen Links zu den Themen und Rhemen der nachfolgenden Abschnitte, um den Text durch ‚thematische Progression‘ voranzubringen (Daneš, 1974).

Benkel dagegen verwendet weder Thema noch Rhema. Seine Gedichte haben wie seine Sätze keinen Anfang und kein Ende. Der verunsicherte Leser wird ohne Orientierung in ein Niemandsland geworfen, wie in seinem Gedicht kindheit und kadaver: „nirgends bin ich / gleichgültig die orte“ (Benkel, 1995, zitiert in Drube, 2000:42), oder vielleicht in fortsatz: „ist ihr ort flackerndes licht“ (Benkel, 2009:22). Genauso wie wir gezwungen sind, das, was in der Informationsstruktur der Gedichte ‚gegeben‘ ist, aufgrund der Negation dieser geschriebenen Konventionen zu überdenken, wird der Leser implizit aufgefordert, dieses Umdenken auf andere soziokulturelle Annahmen auszuweiten.

Zusammenfassend stellt meißelbrut also keinen ‚normalen‘ linear ausgerichteten Text dar, der sich selbst oder seinen unmittelbaren Kotext referenziert und kohärent von gegebenen zu neuen Informationen fortschreitet. Stattdessen akzeptiert seine Intertextualität keine Grenzen und konfrontiert biblische und moderne Stile und Konzepte miteinander. Der Dichter ist anscheinend desillusioniert von Ost wie West, von Rechts wie Links. In der Dekonstruktion unserer Realität ist es seine erklärte Absicht: „Gegenwelten formulieren und die Realität verändern … die Wandlungswillen befördern“ (Benkel im Gespräch, zitiert in Drube, 2000:44).

ZWISCHENMENSCHLICHE BOTSCHAFT

Hallidays ‚zwischenmenschliche Bedeutung‘ (interpersonal meaning) reguliert Rollenbeziehungen in der sozialen Situation. In dieser Hinsicht haben Benkels Gedichte Gemeinsamkeiten mit den Romanen von Margaret Atwood. Als Reaktion auf die konventionelle Rolle der Frau verfolgt Atwood nämlich einen anti-essentialistischen Ansatz, bei dem nicht nur die Rolle der Frau, sondern auch die grundlegendsten geschlechtsspezifischen Annahmen in Frage gestellt werden. Anstatt dass sich die Erfahrung eines Individuums auf ein Netzwerk von Beziehungen konzentriert, die seine soziale Person ausmachen, konstruieren „Atwoods Ich-Erzählungen die Welt als einen Text, der aus der Perspektive des Körpers gelesen wird“ (Gadpaille, 2008:7). Frauen können auf Tiere oder Körper reduziert werden, wodurch manchmal die soziale Kommunikation zum Erliegen kommt, insbesondere zwischen Frauen und Männern. Benkels Gedichte tun etwas Ähnliches, gehen aber weiter und dekonstruieren den Menschen selbst. Der menschliche Körper kann tierisch werden, wie bei Kafka: „wachsen fühler mir wie hörner… nur noch ein panzer lieg ich“ (Benkel 2009:6, glockentier) und eines der Gedichten in Meißelbrut trägt tatsächlich den Titel Verwandlung (Benkel 2009:16), wie Kafkas Kurzgeschichte. Alternativ kann die Veränderung radikaler sein, so dass die Kreatur zu ihren Grundelementen zurückkehrt: „ein ausgehöhlter stumpf“ (Benkel 2009:7, lebensräume), oder: „ein fossil überleb ich“ (Benkel 2009:10, flugschrift).

Zurück zu Atwood, anstatt den weiblichen Körper als eine Schönheit in der patriarchalischen Tradition der Frau als Objekt der Begierde zu präsentieren, porträtiert sie in The Edible Woman (1978) eine schwangere Frau respektlos als eine Boa-Constrictor, die eine Wassermelone geschluckt hat. Sie stellt das heilige Ritual um die Mutterschaft in ihrer Beschreibung von Clara, der Heldin, in Frage und macht sie zu einer „Medusa oder Meckelwurzel, aber niemals zur Madonna“ (Gadpaille, 2008:9). Die nächste Parallele zu Benkel taucht in Surfacing (1972/94) auf, wo Atwood eine “extreme Negation des weiblichen Körpers” (ibid.:10) erzählt, wenn sich die Heldin lebendig unter Erde und Laub vergräbt. Eine mögliche Interpretation des Buchtitels ist die Aufbringung einer (falschen) Oberfläche, etwa wenn eine Frau ihr Gesicht so zusammensetzt, dass sie den soziomedialen Erwartungen entspricht. Diese Schichten von Make-up oder Kleidung werden zusammen mit ihrer ganzen synthetischen Identität abgeschafft, so wie der Erzähler eliminiert, verdeckt oder verkleidet wird. So sagt auch Benkel, „lieg ich von moos bedeckt / im feuer der natur“ (Benkel 2009:36, wald), dort also, wo äußere und innere Landschaften zusammengeführt werden.

Laut Gadpaille (2008:10-13) greift Atwood auf folgende Strategien zurück, die alle auch von Benkel verwendet werden: 1. Atwood tarnt den Körper mit fremden Dingen, sei es Kleidung, Make-up oder natürliche Materie in der Erde; 2. im Gefühl, dass eine echte Frau (wenn es so etwas gibt!) im gesellschaftlichen Betrieb kaum existiert, inszeniert sie einen so weit gehenden Auslöschungsprozess, dass in ihm die Frau verschwindet und nur eine nicht identifizierbare Kreatur übrig bleibt; 3. sie wird in naiver oder idealisierter Bildlichkeit, ähnlich den von süßen Kinderbildern in einem Fotoalbum, gesehen; 4. die Frau löst sich in ein bloßes Symbol von sich selbst auf, wie in Lady Oracle (1998), wo Atwoods Heldin durch Metonymie extrem dünn wird und plötzlich mit ihrem eigenen monströsen Oberschenkel konfrontiert wird: „mir ins Gesicht starrend … Es war enorm…“ (Atwood, 1998:126); 5. sie ist zerstückelt und z. B. auf ihre Beine reduziert; 6. durch eine Form der Verschiebung wird ihre Identität auf die einer Barbara Ann Scott Puppe in Surfacing übertragen.

Benkel geht jedoch viel weiter als Atwood, um die zwischenmenschliche Bedeutung zu dekonstruieren. Während Atwoods Erzählerinnen Beziehungen zu anderen haben, ist die Stimme in Benkels Gedichten nicht nur außerhalb der Gesellschaft, sondern jenseits des Menschlichen, vielleicht sogar jenseits der Materie selbst – ein körperloser utopischer Traum, geboren aus einer Desillusion, die wenig Hoffnung auf das zwischenmenschliche Leben lösst. Benkel wurde als „Außenseiter“ bezeichnet (z. B. Hagedorn, 1995:1) und dies erscheint für den Autor als Mensch angemessen. Andererseits ist es für den Sprecher von meißelbrut völlig unzulänglich, wenn sich die Stimme selbst in Begriffen beschreibt, die deutlich eine spirituelle Dimension evozieren: „werf ich ab die haut“ (Benkel 2009:21, häute), „erlöst vom körper“ (Benkel 2009:24, knochen), „steigt der mensch über seinen leib hinweg“ (Benkel 2009:22, fortsatz), „bin ich ganz form im übergang“ (Benkel 2009:5, meißelbrut). Jede Spur einer zwischenmenschlichen Dimension ist getilgt.

IDEATIONALE BOTSCHAFT

Die dritte und letzte Metafunktion der funktionellen Grammatik, die wir untersuchen werden, gewöhnlich die erste in der Reihe der drei, ist die Ideationale, wo es um unsere Erfahrung der Welt geht. Das Problem in Meißelbrut ist, dass Benkels Welt nicht unsere ist oder zumindest nicht unsere, wie wir es gewohnt sind, sie zu sehen. Statt einer Welt von Agierenden, Opfern und Zwecken, was in all den anderen Gedichten im herkömmlichen erzählerischen Sinn vorkommt, konstruiert Benkel Paradoxien. Hier geht es nicht darum, rhetorische Spiele mit dem Leser zu spielen, wie zum Beispiel dem, zu Beginn einer Passage wichtige Details auszulassen, um wie in Krimis ein Ratespiel zu inszenieren. Benkels Inszenierung geht über das Nicht- oder das Fehl- Erzählen, das die Prozesse verwischt oder verwirrt, hinaus, um unvereinbare oder gegensätzliche Aussagen einander entgegenzustellen, so dass jegliche Erzählung unmöglich wird.

Nicht zufrieden mit der Verschmelzung von Traum und Albtraum, Ideal und Realität, erlegt Benkel uns unmögliche Entscheidungen auf und hält den Leser in einer unhaltbaren Lage gefangen, in der wir gezwungen sind, zu einer neuen Art des Denkens aufzubrechen, um den Diskurs zu verstehen. Trotz bestimmter Aspekte des romantischen Idealismus, einschließlich einer Untersuchung der dunklen Seite der Psyche, wie sie im Eindrängen des Bergbaus in die Erde symbolisiert wird, um eine magische Unterwelt zu entdecken, sind dies nicht Novalis‘ Hymnen an die Nacht, in denen das lyrische Ich sich weigert, seine Liebe für seine tote Verlobte aufzugeben. Stattdessen wird der Verfall umarmt und der Tod um seiner selbst willen gefeiert, wie in „leg ich mich nieder zum liebesakt ins grab“ (Benkel 2009:16, verwandlung) – weil dies die einzige Lösung für die versagende Menschheit ist, das einzige Tor zu einer höheren Form des Lebens. Es scheint, dass wir, wenn die Menschheit sich nicht in etwas Edleres verwandelt, dem Untergang geweiht sind.

Die ideationale Metafunktion, die die Welt beschreibt, bleibt daher unrealisiert. meißelbrut ist wohl ein Werk der religiösen oder halluzinatorischen Visionen, der Erzähler eine mythisch-reale Hybride oder eine verwesende Leiche, die am Tag des Jüngsten Gerichtes auf ihre Auferstehung wartet. Es gibt keine Erzählung oder vielmehr, der Erzähler hat die menschliche Geschichte satt und hofft, dass in Zukunft eine bessere Erzählung diese ersetzen könnte. Er ist völlig allein und bezeichnet sich selbst als „die einsame bestie“ (Benkel 2009:21, häute). Er ist an Kultur verzweifelt: „auf dem grundriss der bühne ist kultur nur noch dekor“ (Benkel 2009:41, pflanzen). Die Bilder sind apokalyptisch gegen Ende der Sammlung, die beiden letzten Gedichte, Feuer und Feuerprobe, enthalten ja das Wort ‚Feuer‘ in ihren Titeln. Der Erzähler hat nichts mehr zu verlieren und sehnt sich daher entweder nach Wiedergeburt („überwinde ich meine natur“, Benkel 2009:84, feuer) – oder Revolution, in einer Umkehrung der biblischen Schwerter zu Pflugscharen („der spaten verhärtet zum schwert“, Benkel 2009:22, fortsatz). Die Lösung könnte eine Form der Taufe sein („steig ich aus dem leib des wassers“, Benkel 2009:30, suche) oder sie könnte der Tod sein, wie bei „saug ich nektar aus der eigenen leiche“ (Benkel 2009:46, felsen), aber der Erzähler ist so verzweifelt, dass alles besser erscheint als dieses gegenwärtige Nicht-Leben.

SCHLUSS

Wir können jetzt zu der Art und Weise zurückkehren, wie die Metafunktionen zusammen funktionieren, oder nicht funktionieren, wie unser Satz, „sie wurde letzte Woche vom Bankhaus Nat West entlassen“. In Benkels Gedichten geht es gerade darum, dass sie nicht zusammenwirken, weil die stillschweigende Übereinstimmung zwischen Autor und Leser in Bezug auf Bedeutungen zusammengebrochen ist und die Botschaft daher etwas in der folgenden Reihenfolge zu sein scheint:

Die Gültigkeit der Informationen, die ich dir gebe, hängt davon ab, ob du akzeptierst, dass wir von einem ‚Erzähler‘ sprechen, aber ich weigere mich, dir zu sagen, wer dieser Erzähler ist oder ob er tierisch, pflanzlich oder mineralisch ist. Die Gültigkeit, die ich für die Informationen beanspruche, ist, dass sie zu einer bestimmten Zeit gültig sein kann, aber ich werde dir nicht sagen, welche. Es kann gültig sein, oder auch nicht, und die Informationen, die ich dir über dieses Thema geben will (oder vielleicht nicht geben will), sind paradox. Unabhängig davon, ob du die Gültigkeit der Informationen unter diesen Bedingungen akzeptierst oder nicht, werden wir sowieso weiterhin so verfahren (nach Thompson, 2004:54).

Enttäuscht von allem unter der Sonne, wie Salomon in Ecclesiastes, fliegt die körperlose Stimme des meißelbrut-Erzählers wie ein krankheitstragendes Insekt (Benkel 2009:10, flugschrift) über die Ruinen einer sterbenden Kultur, die sich in ihrer Bildsprache mit der Metapher vom Leben als Reise verbindet (Lakoff & Johnson, 1980), aber mit einer dunklen, romantischen Verdrehung. Um dieser Reise der Hoffnungslosigkeit zu entfliehen, taucht er in die Tiefen der Erde ein und lotet die Tiefen seiner eigenen Seele aus. Physisch und geistig, abstrakt und konkret zugleich ist er in dieser Hinsicht Novalis, dem idealistischsten und doch wissenschaftlichsten der deutschen Romantiker, verwandt. Die fortschreitende Metamorphose des ‚Erzählers‘ kann als eine Neubewertung der sozialen Bedingungen oder Lebensweisen gelesen werden (Hagedorn, 2006). Der in der deutschen Kultur wahrgenommene Verfall, der das Individuum entfremdet und spirituell in einer Leere zwischen Sozialismus und Kapitalismus verrotten lässt, spiegelt sich im physischen Verfall der in den Gedichten beschriebenen Naturelemente wider. Aber Enttäuschung ist nicht das Ende. In der Häßlichkeit liegt die Schönheit, im Tod das Leben, ebenso wie die Umkehrung der sprachlichen Normen vielleicht eine neue Kreativität des Denkens ermöglicht. Anzeichen einer möglichen zukünftigen Wiedergeburt der Geschöpfe und Hoffnung auf eine entsprechende Renaissance der Gesellschaft häufen sich: „kreist im mondlicht die musik des flusses“ (Benkel 2009:33, fluß); „steigt der mensch über seinen leib hinweg… ist ihr ort flackerndes licht… in die zukunft…“ (Benkel 2009:22, fortsatz).

Zum Schluss Benkels eigene Worte im Gespräch mit Bergmann (2009:5):

„ich biete ja gerade die völlige desillusionierung als ausgangspunkt der utopie an. auf die frage, welche aufgaben literatur haben könnte, sagte ich einmal, am besten sie hätte welche und niemand würde es merken … für mich eröffnet kunst das nicht seiende und ist daher das vollkommen andere gegenüber der utilitären realität, antiwelt und alternative geschichte, und solcherart verwandt mit magie, mythen, mystik, alchemie, märchen, träumen, wahngebilden und einem postvitalen dasein… meine apokalyptischen gedanken [sind] bloss umgekehrte utopien. und ich bleibe dabei, gegenwelten formieren und die realität verändern wollen, das gehört zusammen.“

 

 

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meißelbrut, Gedichte von Holger Benkel, mit siebzehn Holzschnitten von Sabine Kunz und einem Nachwort von Volker Drube, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2009. Eine Rezension finden Sie hier.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

kindheit und kadaver, Gedichte von Holger Benkel, mit Radierungen von Jens Eigner. Verlag Blaue Äpfel, Magdeburg 1995. Eine Rezension des ersten Gedichtbandes von Holger Benkel finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015

fliegende wesen, Gedichte von Holger Benkel,  erschienen in der Weberknecht-Edition, Magdeburg, 2018

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LITERATURVERZEICHNIS

Atwood, M. (1994). Surfacing. Toronto: McClelland Bantam Seal.

Benkel, H. (1995). kindheit und kadaver. Magdeburg: Blaue Äpfel.

Benkel, H. (2009). meißelbrut. Oschersleben: Ziethen-Verlag.

Bergmann, U. (2009). Auf der Suche nach der Anderswelt – in Holger Benkels ‘meißelbrut’. Available at: http://www.keinverlag.de/rezension.php?rid=229. Accessed 5.2.10.

Derrida, J. (1974). Of Grammatology. John Hopkins University Press.
Drube, V. (2000). Im ‘Caberletto’ und Anderswo: Gespräche mit Holger Benkel. Torso, 10, 42-44. Drube, V. (2009). Oszillationen. In Benkel, H. meißelbrut. Oschersleben: Ziethen-Verlag, 86-90.

Gadpaille, M. (2008). Atwood’s Body Politic: a taxonomy of gender representation. Philologia, VI, 7-16.

Hagedorn, M. (2009). Leben, ein Rohstoff: meißelbrut – und andere gedichte – von Holger Benkel. Available at: http://www.poetenladen.de/forum/viewtopic.php?t=887&sid=e21e3b7816046f5b1398f94dc0628f4 6. Accessed 5.2.10

Halliday, M.A.K. (1985/1994). An Introduction to Functional Grammar. London: Edward Arnold. Kutsch, A. (2010). Blank Generation. Available at http://lyrikzeitung.wordpress.com/tag/axel-

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Schinkel, A. (2009). Nachrichten aus der Wolfs- und Knochenzeit – Holger Benkel legt einen neuen Gedichtband vor. Fixpoetry (15.11.09). Available at: http://search.babylon.com/?q=Schinkel%2C+A.+%282009%29.+Nachrichten+aus+der+Wolfs- +und+Knochenzeit+Holger+Benkel+legt+einen+neuen+Gedichtband+vor&babsrc=dtb&s=web. Accessed: 11.2.10.

Thompson, G. (2004). Introducing Functional Grammar. Hodder Education.

Weigoni, A.J. (1999). Eine Sprache finden, ein deutsch/deutscher Dialog (Interview with Holger Benkel). Available at http://www.lyrikwelt.de/hintergrund/benkel-gespraech-h.htm. Accessed: 5.2.10.

Hagedorn, M. (1995). Interkulturelle Existenz: kindheit und kadaver von Holger Benkel. Available at: http://lyrikzeitung.wordpress.com/2010/02/01. Accessed 5.2.10.

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