Worte aufschichten wie Holzscheite

Über den 1-maligen Dichter Arthur Breinlinger

Arthur Breinlinger, Porträt von Ulrich Bergmann

Arthur Breinlinger ist Maler, Dichter und Lehrer. 1943 wurde er in Minden geboren. Der Vater war Offizier. Breinlinger wuchs in Ulm auf. Lebenslang Fan des SSV Ulm, reist er zu den meisten Spielen und, als Ästhet des Kampfsports und der Massenkommunikation, in die Stadien zu vielen herausragenden Bundesligaspielen. In Bonn bestand er am Friedrich-Ebert-Gymnasium das Abitur und studierte Germanistik und Philosophie. In diesen Lehrjahren schrieb er zahlreiche Rezensionen von Dichterlesungen im „General-Anzeiger“, darunter Thomas Bernhard, Peter Handke, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und viele andere. Ernst Meister widmete ihm ein kleines Gedicht.

Früh begann Arthur Breinlinger zu schreiben, kleine Texte in der experimentellen Manier, die Ende der 60er Jahre die Sprache zum literarischen Gegenstand machte, mit ihr spielte, aus der Form Inhalte schlug und aus den Inhalten Form. Er ließ die Gewichte seiner Seele in seine kleinen Texte fallen, die sich zwischen Prosa und Lyrik bewegen, und band sie zu einem Buch, das es nur in einem einzigen Exemplar gibt.

Er malt auch kleine Bilder, aber er illustriert nie seine Texte. Die Bilder sind Zeichen seiner Liebe zu der Frau, die er in dieser Zeit heiratete, und spiegeln seine Aus-einandersetzung mit Paul Klee, August Macke und Pablo Picasso wider – die Bilder sind leicht, so leicht wie Arthur Breinlingers Seele später nie wieder sein wird, die Bilder könnten in einem Buch für Kinder stehen, sie sind Verwandte der Zeichnungen Saint-Exupérys zum „Kleinen Prinzen“ und erinnern in ihrer Comic-Art an Janosch – sie bilden ein eigenes kleines grafisches Universum der in sich geschlossenen Liebe und noch erträglichen Leichtigkeit familiären Seins. In späteren Jahren malte er andere kleine Bilder, dunkle Seelenbilder in der Nachfolge Edvard Munchs: Akte und Paare in den Farben der Ein-samkeit, Kompositionen von Alter und Tod.

Aus Arthurs Tagebuch: Nacht.

Schon wieder das Auto kaputt, ausgerechnet auf dem Weg zum Kino, die verdammte Schrottkiste, die ich liebe, weil sie mir ähnelt. Ich vermute Getriebeschaden, irreparabel. Kein Kino also. Ich suche ja den vorzeitigen Abend, um der Hölle der anderen zu entkommen, weil die eigene besser wärmt. Gut, dass es mich gibt, denke ich dann, in der Hölle der anderen erfriere ich. Indem meine Phantasie mit dem Licht der Leinwand abbrennt, lebe ich erst. Indem ich Teil der Kunst werde, bin ich befreit von den Dingen, und für eine Weile vergisst mich sogar mein Körper. Aber ich hasse die Nacht, ich ersticke in meiner Hölle, ich kann nicht selber Arie und Orchester, Bühne und Film, Ton und Farbe sein. Mein Körper lärmt. Ich sehe mich immer mehr in anderen, die anderen in mir, und ich treffe mich nicht mehr mit mir, sodass ich mich verliere. Das macht mich müde, aber ich kann nicht schlafen, wie ich auch nicht wach werde um zu leben. Ich hasse die Nacht, weil sie mir alle Termine stiehlt bis auf den einen, den ich weder vereinbaren noch absagen kann.

Arthur Breinlingers opus magnum sind vielleicht die 25 Texte des Prosa-Zyklus VOM RABEN WAS (in den kommenden Wochen auf KUNO) Das Werk ist ein Dokument paradiesischer Erfahrung: Das Verhältnis zur Welt stimmte in dieser Zeit, die Bilder betonen mehr als die Texte die Freude über die Innigkeit der Liebe und die Harmonie, beschwören sie aber auch und ironisieren sie leicht, während die Texte die Dinge der Welt nennen, ohne Wertung – es sind die Dinge der Außenwelt. Der märchenhafte und gespielt naive Titel bezieht sich auf die Innenwelt.

Das literarische Oeuvre schien abgeschlossen, als die Berufswelt hereinbrach: Breinlinger wurde Studienrat am Gymnasium in Mechernich. Er machte als erster an dem 1964 gegründeten Gymnasium Schülertheater. Mit einem Leistungskurs Deutsch wurde Goethes „Iphigenie“ mit sieben Iphigenien aufgeführt, mit einem Literaturkurs Büchners Komödie „Leonce und Lena“.

Es treibt ihn in seiner freien Zeit durch die Welt der Kunst, in die Museen, Theater und Kinos, aber genauso in die profane Erlebnissphäre der Fußballstadien ganz Deutschlands. Nur mit der Welt im Rücken, die er sich hier in kleinen Fluchten erschafft, kann er seinen realistischen Gang durch den Alltag ertragen.

Wenn ich ins Theater gehe, gehe ich nur in ein anderes Stück meines Lebens, sagt Arthur, und wenn ich aus dem Theater komme, erschaffe ich mich spielend immer wieder neu in meinen Stücken. So ermögliche ich meine eigentliche Geburt als Lebenskünstler. Mein Ich spielt mit meinem Gegen-Ich, und derart schizophren bringe ich mich wechselseitig um, Stück für Stück. Meine Lebenskunst ist ein permanenter Selbstmord zum Leben hin. Das Leben der Sterbenden ist mir zu tot. Ich kann nur als Toter leben. Das ist meine Realkunst: Eine Politik des möglichen Lebens.

Arthur Breinlinger fällt aus der Zeit, weil er in der Zeit, in der er lebt, nicht zu Hause ist. Weil er in der Welt, wie sie ist, nicht zu Hause sein will, lebt er in einer Welt, wie sie sein soll, in seiner Welt, die die Welt der Kunst ist.

Wenn ich ins Museum gehe, denke ich immer, sagt Arthur, ich renne offene Türen ein. Die Skulpturen schauen mich an, als ob sie mich schon erwarten. Sie freuen sich dich wiederzusehen, sage ich. Das dachte ich auch, sagt Arthur. Wenn ich an der Liegenden von Maillol vorbeigehe, kann ich nicht anders: Ich muss sie berühren und fahre ihr über den ganzen Rücken und gehe weiter und schwebe zu den nächsten Figuren. Wie Goethe in Italien!, rufe ich aus. Das dachte ich auch, sagt er. Aber alle die Schönen aus Marmor und Bronze sind eifersüchtig, und wenn ich das Museum wieder verlasse und durch die Reihen der anderen Liegenden und Lie-benden gehe, fassen sie mich alle an, und in diesem Spießrutenlauf durch meine Einbildung bin ich am Ende ganz niedergeschlagen.

Am 16.6.1988 schrieb er auf einer Mona-Lisa-Postkarte an mich das Gedicht „An diesem Arbeitstag …“, das dieses Buch eröffnet. Es folgen, vor allem seit seiner Verabschiedung in den Ruhestand weitere Gedichte und Gedichtzyklen.

Hier das erste veröffentlichte Gedicht:

„Tageis. Das wäre das letzte Gebirge nach dem Überqueren der Nacht: Dieses verletzende Licht hinter der Finsternis und der dunklen Glut des Morgens. Lehnen wir an den letzten Mondstrahl uns – schon aber während wir Grund suchen noch in der Tiefe des Morgens stürzt unser Körper hinaus in das Tageis. Woher denn nähmen wir dankbar zu sein wenn es sommerte die Erinnerung an kältere Tage wenn nicht die Blütenträume uns im Frühjahr schon erfroren wären – wie und wohin, die Blätter fielen dann wenn nicht wie Asche schützend uns aufs Haupt.“

(Quelle: DICHTUNGSRING. Zeitschrift für Literatur Nr. 24/25, Bonn 1996)

Mein Leben, sagt Arthur, gleicht einem steilen Berg, auf den ich ohne Seil und Sicherung hochklettere. Je höher ich komme, umso größer wird mein Schwindel, immer klarer wird mir: Ich besteige mich selbst. Endlich oben, sage ich mir: Also das ist der Gipfel! Und ich umarme mich. Aber wer hält wen?, frage ich mich. Und wo halte ich mich fest, wenn ich weiter gehe? … Hörst du mir überhaupt zu? – Ja. Ich schaue in die Tiefe, und ich denke, sie spiegelt sich im Himmel, wo ich mit dem Kopf auf sie gestoßen bin. Aber mein Kopf hat keine Füße.

Was ist der Grund für die unfassliche Reduktion dieses Dichters, dessen Talent sich früh manifestierte? Warum bleibt sein literarisches Werk so seltsam einmalig? Arthur Breinlinger erinnert mich an den scheiternden Helden in „Schlachten“ (das mittlere Stück der Trilogie „Krieg“ von Rainald Goetz): Der an seiner Familie und dem Alltags-leben verzweifelnde Künstler ist unfähig die Welt zu malen:

„Jeder Satz ein Satz zuviel | … Nicht was man tut, was man nicht tut, ist die Leistung | … Leben | ist Lüge, meine Kunst … | Versagen … | nichts ist wahr, lebenslänglich droht Unordnung | plötzlichster Gedanken in mir | gegen mich, arbeitet alles an meiner Vernichtung, … | irgendwann mache ich Ordnung, |… mein Fleisch leidet, nicht der Geist…| nichts | das ist das Problem die Kunst | alles nicht zu tun | und doch | nicht nichts zu tun“

Es ist die Haltung des Künstlers, der die besten Bilder nur im Kopf malen kann, des Dichters, der die wahrsten Dichtungen nicht schreibt, weil die Bilder im Kontext des Kommerzes und der Museen verlogen werden, weil die Gedichte im Leser nicht ankommen, weil der Leser seine Bilder selber malen muss, seine Dichtung selber erleben soll. Diese Haltung ist ein Balanceakt zwischen Hoffnung und Resignation. Die Hoffnung ist die Haltung des Lehrers, die Resignation gehört zur Weisheit des Philoso-phen, der den Künstler in sich zu überwinden versucht, weil er die Kunst als Trost und Rechtfertigungsgrund durchschaut.

Wir ernten in unserem schweren Leben für unsere besten Einsichten immer wieder dasselbe – wenig Lob, viel Tadel, sagt Arthur, darunter leide ich oft. Ich kenne dich, du leidest aus lauter Eitelkeit, sage ich. Nein, sagt Arthur, ich leide nicht gern, aber wenn ich nicht leide, geht es mir auch nicht gut.

Das ist trivial, sage ich. Trivial, sagt er, ist stets das Leiden der anderen, das eigene Leid dagegen immer tief und tragisch. Gut, sage ich, worunter leidest du? Unter der ganzen Welt, die so falsch eingerichtet ist, sagt Arthur, und unter meinen eigenen Schwächen und Fehlern. Aber das bedeutet ja, sage ich, dass du in einer Welt ohne Fehl und Tadel nicht glücklich würdest. Ja, sagt Arthur, die Welt als Paradies wäre mir zu lang-weilig. Auch darunter, dass ich in der besten aller Welten litte, leide ich. Dann willst du also leiden, sage ich. Ein bisschen schon, sagt Arthur, denn das Leiden ist mein ganzer Trost. Ich habe schon oft so schön gelitten, dass ich dachte, ich bekomme Beifall auf offener Szene! Aber keiner durchschaut meine Vorstellung.

Zum Glück ist so ein Kokettieren mit der Absurdität lebensbejahend. Die Selbstironie, die von Humor getragen ist, ist eine schöpferische Kraft. Zwar suchte Breinlinger in seinen „Rabentexten“ das „Bewusstsein hinter der Sprache“ und fand dort nicht nur den „Kindermund im blauen Frauensand“, sondern auch die „abgetriebenen Zusammenhänge.“ Denn: „Wir sind im Bewusstsein der Angst.“ Gerade deswegen müssen wir „Worte aufschichten wie Holzscheite und … Die Kälte in kleine Stücke lachen und von neuem beginnen.“

In einem Gespräch mit mir meinte er, er sei schließlich erst 58, da hätten manch andere erst angefangen zu schreiben. Er hat nicht aufgehört zu dichten, weil er nicht mehr schreibt: Wie Sokrates erschafft Arthur Breinlinger die schönsten Dichtungen in Gesprächen mit seinen Freunden und wirkt in ihnen weiter.

 

 

Weiterführend →

Wie KUNO hat auch Ulrich Bergmann ein Faible für literarischen Außenseiter. Eine faszinierend langer Briefwechsel zwischen Ulrich Bergmann und HEL findet sich hier. Poesie ist ein identitätsstiftende Element unsrer Kultur, lesen Sie auch KUNOs poetologische Positionsbestimmung.

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