Miguel

Er hatte nach etlichem Suchen in seinem verwühlten Papierkram die Adresse von Miguels Eltern gefunden und beschlossen, vorbeizuschauen, um Miguel zu treffen und ihn auszunutzen als kostenlosen Reiseführer Festivitätseinlader und Dolmetscher für die verwirrende Nachrevolutionsszenerie. Sie fragten einige Rentner, die tatterig tratschend sich um einen ausgetrockneten Brunnen herum versammelt hatten, nach dem Weg. Miguel Hernandez, ein Freund eines Freundes, der, als er über diesen Freund von Jean-Pierres Reise- oder Auswanderungsplänen hörte,  speziell aus Marseille angereist war, ohne sich lange anzukündigen. Er, der immerhin Miguels Namen kannte und wußte, daß es ihn gab, steckte noch in der Universität, und als er endlich auf der Bildfläche erscheint, da sitzt ein Halbweißer Halbindio mit  Kupferhaut einem schwarzen  Haarzopf einem indigenen Folklorekostüm mit aufgestickten Imitatperlen und dunkelblauen Rautenmustern mit einem grauen Hut mit breitem schwarzem Hutband in seiner Küche, hat sich längst bekanntgemacht mit seiner Frau und palavert fröhlich mit ihr, läßt sich mit Jasmintee und Spritzgebäck traktieren.

Überhaupt wurde Jean-Pierre nicht klar, was Miguel eigentlich  bewogen  hatte zu kommen, ob es nur  Langeweile in der Provinz und Sehnsucht nach dem großen Paris war oder das selbstlose Angebot aus sekundärer Freundschaft, ich helfe dir wo immer du mich brauchst. Oder war es eine bestimmte Kalkulation, über die man nicht sprechen  konnte und auch besser nicht sprach. Jedenfalls hatte Miguel ihm, als sie einen Augenblick allein waren, gesagt, er werde im November für einige Monate nach Hause zurückkehren, Jean-Pierre solle ihn doch besuchen, man werde zusammen eine gute Zeit haben.

Miguel stammte aus einer eher reichen Familie, trotz seines volkstümlichen Auftretens und seiner Unterversorgung mit weißen Pigmenten. Er hatte sich sehr früh schon, noch in der Heimat, einer revolutionären Gruppe angeschlossen, war mit Fonseca befreundet gewesen, aber nach dessen Tod mit seinen trotzkistischen Radikalismen und seiner grenzenlosen Chinabegeisterung in Widerspruch geraten zu den Ortegas und dem sandinistischen  Apparat. Nach dem Abendessen hatte Miguel sich in dubiosen Andeutungen ergangen, er fühle sich verfolgt und fürchte um sein Leben, hier in Europa schon und vielleicht noch mehr, wenn er erst zurückgekehrt sei. Andere hätten es besser verstanden, sich dem Gang der Dinge anzupassen und die korrekte Linie einzuhalten, vor allem der Alemán, Sohn deutscher Eltern, ein Ingenieur, exzellenter Fachmann für Zentrismus und Schwenkberechnung, dem eine große Nähe zu den zukünftig wichtigen Leuten nachgesagt wurde, eine hohe Effektivität, er sollte Polizeipräsident der Hauptstadt werden oder Minister für Kommunikation. Miguel, der sich von ihm verdächtigt und ins Aus gedrängt fühlte, hatte zeitweise die Organisation verlassen gehabt, war dann nach entschiedener, aber vielleicht doch nicht ausreichender Selbstkritik wieder aufgenommen worden mit einem provisorischen Bewährungsstatus. Miguel äußerte sich so, als solle seine Angelegenheit abschließend geregelt werden, wenn er wieder zuhause sei.

Das Haus, an dem sie klingelten, war kein ganz schlechtes, eine ausladende Treppe, eine grüngestrichene Veranda.  Es dauerte ewig und erforderte ein zweites und drittes Gebimmel,  bis jemand kam, ein verschüchtert und verheult wirkendes Mädchen, vielleicht ein Dienstmädchen, vielleicht eine Schwester oder eine Nichte. Jean-Pierre verbeugte sich gravitätisch und fragte nach  Miguel. Das Mädchen schwieg, er wiederholte seine Frage, noch ein bißchen langsamer und um korrektes Castellano bemüht.  Er erklärte umständlich, er sei ein Freund von Miguel oder besser gesagt der Freund eines Freundes, von Monsieur Thuil aus Marseille, vielleicht kennen Sie ihn auch. Miguel habe ihn eingeladen, ihn hier zu besuchen. Das Mädchen antwortete immer noch nicht, sondern wandte sich an Katrin, um sie zu fragen, ob sie auch wegen Señor Miguel käme. Katrin schüttelte den Kopf: „Ich bin nicht aus Frankreich“. Das Mädchen nickte, als ob sie etwas Bedeutsames erfahren habe. Sie blickte starr zur Seite, an diesem Franzosen vorbei: „Señor Miguel ist nicht da.“ „Wann wird er wiederkommen, wo ist er?“ „Er ist in Managua, aber ich weiß nicht wo. Niemand weiß, wann er wiederkommen wird. Was soll ich ihm sagen, falls er wiederkommt?“ „Sagen Sie, daß ich hier war. Ich heiße Jean-Pierre. Und sagen Sie, entweder schaue ich hier noch einmal in ein oder zwei Wochen vorbei oder wir sehen uns in Frankreich wieder, wenn ich dorthin zurückkehre und wenn er dorthin zurückkehrt.“ „Ich werde es ihm sagen.“ Ohne weitere Zeremonien, ohne die mindeste Einladung zu Kaffee und Kuchen, schloß sie die Tür. Er trat zwei Schritte zurück, an den Rand der Straße: „Seltsame Soße.“ Nach einigen Schritten setzte er hinzu: „Vielleicht wollte er uns nicht sehen. Vielleicht ist er eingesammelt worden. Hier wird jetzt niemand spurlos verschwinden. Es wird immer eine Nachricht geben, man müßte nur die Zeit haben, um zu warten.“ Das war es, die Zeit.

 

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WOLFSSEKUNDEN. Kurze Prosa 1995-2010. WERKE Band 1“, mit einem Nachwort von Nikolaus Gatter (367 Seiten, fester Einband, 22 x 17 cm, 24,90 €, ISBN 9783746092430).

Wolfssekunden ist nach Der Unvermiderte (1991 bei Dipa in Frankfurt am Main), Der Abschiednehmer (2003 im Verlag Freiburger Echo in Freiburg im Breisgau) und Gwalt (2010 im KIDEMUS Verlag, Köln) Rolf Stolz vierter erzählender und prosaischer Band. Es sind einfache Geschichten über Menschen und ihre Schicksale, meist zwischen 1900 und 1999, zwischen Deutschland und der Nirgendwo-Welt angesiedelt. Diese Prosa bewegt sich zwischen Traumphantasien, (auto)-biographischen Fragmenten, Kurzkrimis, Parodien, Historien und Legenden bewegen sich diese Texte durch Zeit und Raum.