Dystopische Hellsicht

Der Mensch verbringt die meiste Zeit damit, in überfüllten Städten herumzulaufen und sich davon zu überzeugen, wie wichtig er für den Lauf der Dinge ist.

Frederick Forsyth

Auch Zwerge haben klein angefangen, daher sollte man die Lektüre von A.J. Weigoni Prosa mit den Vignetten beginnen, eine knapp 60 Seiten langen Novelle mit der dieser Romancier eine Literaturgattung poetisch renoviert. Man kann jedes dieser Bücher für sich lesen. Erzählung für Erzählung. Novelle für Novelle. Und als I-Tüpfelchen den Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet. Bei einem geeigneten Flow kann der Leser aber auch durch das „Konzeptalbum“ von 600 Seiten hybrider Prosa der Zombies und Cyberspasz surfen, und sie als Kommentar zur Zeit der totalen Kommunikation lesen. Die Mechanismen der digitalen Geräte entsprechen den Mechanismen, wie Menschen ihr Leben gestalten; es ist eine sogenannte Globalisierung, die einerseits von Geldgier, andererseits von der Hoffnung vieler auf spirituelle Erlösung geprägt wird. Diese Prosa spiegelt eine Welt der Millenials, die von Wertezerfall, Moralverlust und einem enthemmtem Kapitalismus geprägt ist. Mit dem Präzisionsbesteck eines Pathologen seziert Weigoni die Gesten der Macht, die wie beiläufig vorgetragenen Einschüchterungen und Drohungen, aber auch das getrieben Ekstatische der luftleeren Welt des Geldes. Diese Bücher sind ein Beitrag zur Typologie des neoliberalen Charakters: seiner Zwänge, seiner Gewalttätigkeit, aber auch seiner Leidenschaft, seiner Energie und seiner Faszination. Die Tableaus der kapitalistischen Ödnis, die Weigoni schildert, sind von derart berückender Schönheit, daß die eigentliche Handlung darüber fast nebensächlich scheint. Die Zombies akzeptieren die Normen einer heruntergekommenen Lemminge­-Gesellschaft, die Humanismus und Aufklärung aufgegeben hat und nur noch egoistische Vorteilsnahme als Wert ausgibt. Sie leben in einer real virtuality nur noch im Konkurrenzkampf, der längst die Seele zerfressen hat.

Schwarzer Humor mit gedanklicher Substanz bedenkt neben Selbstkritik inneren Widerspruch zwischen gelernten Werten und den, aus eigenen Einsichten abgeleiteten neuen Werten.

Thomas Raab

 

Coverphoto: Anja Roth

A.J. Weigonis Erzählungen haben keine Vampirzähne, Biss haben diese Zombies allemal. Sprachlich auf das Wesentliche reduziert, Erzählungen, die ihrem Namen gerecht werden. Dieser Romancier führt den Leser durch ein abgründiges Bestiarium menschlicher Leidenschaften und zeigt mit irritierender Illusionslosigkeit die menschliche Grausamkeit.

Ohne Schnörkel zelebriert A.J. Weigoni die Magie des Alltags. Seine Erzählungen sind ein Spiegelbild der alltäglichen Monstrositäten, Untergangsgeschichten, geprägt vom melancholischen Sound des globalen Niedergangs, wachsender Amoral und ausgefranster Tradition. Diese Erzählungen sind voller Humor – und streckenweise so schwarz, dass sie unter der Kohlenkiste noch einen Schatten werfen würden. Die Frage, wie sich Zombies und Vegetarier zueinander verhalten, wird in Cyberspasz, a real virtuality geklärt.

Die Novelle, ein Bastard der Erzählung

Covermontage: Jesko Hagen

Nach den drakonischen Gesetzen des Sortiergewerbes ist die Novelle ein Bastard der Erzählung. Folgt man der sortenreinen Klassifikation der Germanisten, dann variiert A.J. Weigoni in seinen neuen Novellen Cyberspasz, a real virtuality die Erzählungen seiner Zombies. Er setzt Figuren und Figurationen in einen übergreifenden Zusammenhang, parodiert die Stilmittel des Cyberpunk und unterläuft subtil das Zopfmuster so genannten Kriminal–Romans.

Dieser Romancier hält eine Spannung aufrecht, damit die Leser ihm in die Abgründe des Menschlichen folgen. Seine Prosa durchwehen eiskalte Feuerwinde, führen in ein Bestiarium von Gestalten, die unter einem enormen Beschleunigungsdruck agieren und deren so genannte Beziehungen dadurch das äußerste Ausmaß von Beziehungsarmut zeigen. Dabei moralisiert Weigoni nicht, er erzählt notwendige Geschichten des beginnenden 21. Jahrhunderts. Das macht die Kraft dieser Novellen aus, deren Dichte zuweilen den Lyriker verrät.

Weigoni beherrscht die Sprache so souverän, dass er keine großen Worte machen muss. Literatur kann nicht hellsehen, aber klarsehen, wenn ihr Sensorium für die Verwerfungen der Zeit und für die innere Fragilität des Ichs fein genug ist. Was nicht zwingend Feingeistig sein muss. Als Erforscher von Trivialmythen interessiert er sich für die Fragen jenseits des whodunnit: Soziales, Politisches, und Ethisches. Verbrechen passieren überall und werden zu Unterhaltung gemacht. Es liegt in der Logik des tiefgefrorenen Kapitalismus, alles zu Entertainment zu machen. Weigonis Bücher sind ein vehementer Widerstand dagegen, er setzt weiterhin auf die Aufklärung.

Jeder Detektiv lebt von Zusammenhängen, daher gleichen wir Leser einem Kriminalisten, der annehmen muss, dass sein Weltbild durch Lektüre einen Sinn erhält.

Weigonis messerscharfes Prosawerk „Abgeschlossenes Sammelgebiet“, ein Jahrhundertwerk.

Wolfgang Schlott

Selbstverständlich ist die Liebe – literarhistorisch betrachtet – ein alter Esel, dem man einiges aufbürden kann, ohne daß er darunter leidet. Wenn man es so bezieht, begann die uns bekannte Literaturgeschichte mit dem Gilgamesch-Epos. König Gilgamesch von Uruk hatte durch einen Traum bereits vom Fallensteller Enkidu erfahren. Enkidu erlag der Sinnlichkeit der von Gilgameš gesandte Tempeldieneri Schamchat. Sie vereinigte sich mit dem Wilden sieben Tage und Nächte und er wurde so zivilisiert und der Natur entfremdet. Schamchat hauchte ihm durch ihre sexuelle Vereinigung den Geist sowie die Einsicht ein und brachte ihm die Sprache der Menschen bei. Nach dieser zweiten Geburt des Enkidu kann er nicht mehr mit den Tieren Schritt halten. Schamchat erzählte ihm daraufhin von Gilgamesch und seiner Tyrannei am Volk, damit Enkidu sich mit Gilgamesch messen könne und dadurch die Gebete der Bewohner von Uruk erhört und die Menschen von Gilgameschs Gewaltherrschaft befreit würden.

In Weigonis Roman über die Wiedervereinigung geht es auch um die Lust auf Körperlichkeit, das Fleisch und den Leib, die Emotion und letztlich die Befreiung. Es beschreibt die Liebe zwischen Charlotte, Moritz und Jane als unerklärlich und verrückt. Die Gefühle sind so stark, daß die Figuren ihr äußeres Verhalten kaum noch beherrschen. Liebe wirft die Ordnung ihres Verstandes über Bord. Sie spüren diesen Zustand der Verrücktheit vor allem dann intensiv, wenn es zum Bruch kommt. Sie durchleiden ihn wie eine Krankheit, und wenn sie geheilt sind, fragen sie sich, wie ihnen so etwas überhaupt zustoßen konnte. In diesem Roman entfaltet sich ein kompliziertes Geflecht aus moralischen Verpflichtungen und persönlichen Interessen, aus privaten Dilemmata und doppelbödiger Politik, aus Abhängigkeiten auf allen Seiten, dass ihr am Ende nichts als das eigene Ich bleibt – wobei niemand dieser hypermodernen Menschen weiß, was für eine verfängliche, unzuverlässige, möglicherweise korrupte Gestalt gerade dieses Ich ist. Die Artikulation des politischen Kampfes bringt nicht zwingend Literatur hervor, aber gesellschaftspolitisches Bewusstsein ist das schöpferische Schicksal“ derjenigen, die in der Geschichte leben.

Liebe ist nicht einlösbar, der totale Anspruch, der hinter diesen Vorhaben steckt, die Bedingungslosigkeit, die Unbegrenztheit. Davon zu erzählen, ganz ohne in Gefühligkeit zu verfallen – das schafft nur ein großer Romancier. Begehrensstrukturen haben die Auffassung von Liebe verändert, nicht nur Liebeskonzepte, sondern auch dazugehörige Gefühle sind wesentlich durch den gesellschaftlichen Rahmen geprägt, in dem sie gelebt werden. Vielleicht sollte man Abgeschlossenes Sammelgebiet gleichsam landeskundlich lesen, als sehr sorgfältige, sehr gründliche Einführungen in die politischen, sozialen und kulturellen Verhältnisse eines geteilten Landes, das länger als irgendein anderer moderner Staat an der rigorosen Trennung seiner Landsleute festhielt und die Unmenschlichkeit in Namen einer Staatsreligion institutionalisierte, manifestiert durch einen Mauer, die aus einem Staat ein Staatsgefängnis machte. Aber auch das Luxusdenken und die Bequemlichkeit der BRD durchschaut Weigoni durch seine Beobachtungsgenauigkeit gnadenlos. Vom „authentischen Drama des Zusammenseins“, vom „oszillierenden Plasma der Beziehungen“, vom „Innen/Aussen-Paradoxon“ ist in den Ratgeber-Büchern die Rede. Seine Figuren werden zu Trägern historischen Bostschaften und das funktioniert, weil man sich auf die erzählte Geschichten verlassen kann. Nach dem Verlust der Utopie scheint einzig die Liebe scheint einzig die Liebe eine anarchische Form zu sein.

Es gibt keine Vorschriften, wie man die Liebesleidenschaft darstellt.

Abdellatif Kechiche

Weigoni versucht dem Akt des größten menschlichen Begehrens unter erschwerten Bedingungen gerecht werden. Liebe ist unter hypermodernen Bedingungen einerseits emotional stark aufgeladen, andererseits unterliegt sie der allgemeinen Rationalisierungs- und Entzauberung durch den Diskurs der Naturwissenschaft und der Psychologie. So lösen sich die geschilderten Liebesszenen nicht mit heteronormativem Blick voyeuristisch sondern poetisch auf. Letztlich ist die Liebe wahrscheinlich nur eine Erfindung für einige wenige Glückliche. Liebe bietet die Folie für andere Unwägbarkeiten des Lebens. Am Schluss dieser éducation sentimentale verurteilt Weigoni die Hautfiguren zu Liebeslänglich.

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Bestellungen über: info@tonstudio-an-der-ruhr.de

Weiterführend →

Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Annäherung von Angelika Janz finden Sie hier. Ein behutsame Heransgehensweise schlägt der Lektor Holger Benkel vor. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich auf kulturaextra. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson und diesem Roman wird hier gezogen. Ein Hintergrundgespräch findet sich auf der Lyrikwelt. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier.

Sondermarke von 1969, abgestempelt am 9. November 1989

Weiterhin von A.J. Weigoni erhältlich:

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Zombies, Erzählungen, Edition Das La­bor, Mülheim an der Ruhr 2010.

Vignetten, Novelle, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2009.