Frühlingel • Revisited

(Der Titel stammt von Peter Meilchen, die Geschichte ist ihm gewidmet)

Während der Himmel draußen in hellkaltem Blassblau leuchtet und der Dunst den Horizont aufhellen lässt, sitzt Herr Nipp wie fest angewurzelt in seinem Arbeitszimmer, er fühlt sich zumindest wie angewurzelt. Der Blick ins Draußen bannt ihn, auch dass an diesem frühen Vorfrühlingstag bereits ein Zitronenfalter taumelnd durch den Garten flappt. Die obligatorischen Vögel dürfen natürlich in diesem Idyll nicht fehlen (gehen wir einfach mal von ein paar Amseln, einigen Meisen und Finken aus), will es richtig beschrieben werden. Sie lassen ihre testosterongesteuerten Werbegesänge hören, in Variationen wohl, aber letztlich als jahrtausendalte Leyer, wenn man davon absieht, dass die geflügelten Freunde aus der Welt der sie umgebenenden Stadttechnik inzwischen einige Töne übernommen haben. Die dicken Hummeln fliegen ihre unbeholfen scheinenden Flüge dicht über dem Boden, scheinen fast so, als könnten sie sich kaum in der Luft halten, immer auf der Suche nach einer ergiebigen Blüte, noch wichtiger ist es jedoch, eine geeignete Höhle zu finden, in welcher sie ihren zukünftigen Ministaat gründen können. Zwischen den Steinen, den Platten und Blöcken seiner Trockenmauern werden sich genügend davon finden und zuweilen muss die bisherige Bewohnerin, eine dicke schwarzgraue Spinne dann eben vertrieben werden. Darin nämlich sind die so harmlos erscheinenden Hummeln sehr gut. Radikal, sie haben ein dickes Fell, sie beißen und stechen. Schmerzhaft. Die meisten Spinnen geben schnell auf, suchen sich ein neues Plätzchen irgendwo in der Mauer, die restlichen müssen sich mit einer Nebenrolle in ihrem Zuhause begnügen, werden dann manchmal eine gewisse Zeit geduldet. Zumindest solange der Staat eine gewisse Größe nicht überschritten hat. Spätestens aber, wenn rund 50 Hummeln versammelt sind dort, ist für Jäger kein Platz mehr. Da müssen auch die wehrhaftesten Achtbeiner vorsichtig sein. Da Herr Nipp seit Jahren keinerlei Gift im Garten verwendet, sind auch andere Insekten und Kleinlebewesen zurück in die Stadt auf sein winziges Stückchen Land gekommen. Zum Beispiel die Hummelschwebfliege, die sich nur im Frühjahr zeigt. Er hat im vergangenen Jahr dort zum ersten Mal eine Eidechse gesehen, die sich auf einer dunkelroten Steinplatte sonnte. Diese aber hat er nur einmal gesehen. Mindestens drei Mäusearten hat er gezählt. Unzählige Käfer und Hautflügler. Jetzt aber sieht er nur oberflächlich hin. Bemerkt die verblühenden Schneeglöckchen, die Krokusse und ersten Skillas. Der Bärlauch zeigt erste Spitzen, er wird sie bald ernten können für eine deftige Pesto über Spaghetti. Und plötzlich spürt er den ersten Kuss auf den Lippen, der damals, er war noch ein halbes Kind, den Hauch von Knoblauch hatte.

 

 

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Frühlingel, erschienen im Buch/Katalog-Projekt Wortspielhalle, Edition Das Labor, Mülheim 2014

Auf dem Cover, ein Frühlingel von Peter Meilchen

Weiterführend →

Constanze Schmidt zur Novelle und zum Label. Ein Nachwort von Enrik Lauer. KUNO übernimmt einen Artikel der Lyrikwelt und aus dem Poetenladen. Betty Davis konstatiert Ein fein gesponnenes Psychogramm. Über die Reanimierung der Gattung Novelle und die Weiterentwicklung zum Buch / Katalog-Projekt 630 finden Sie hier. Einen Essay zur Ausstellung 50 Jahre Krumscheid / Meilchen lesen Sie hier. Mit einer Laudatio wurde der Hungertuch-Preisträger Tom Täger und seine Arbeit im Tonstudio an der Ruhr gewürdigt. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier.