Helden? Nur für einen Tag!

Das Ehrliche am Sozialismus 
war der Einsatz schnell verwitternder Baumaterialien.

Wie weit die gesungene, strophische Ausformung der Heldendichtung historisch zurückreicht, ist unter Germanisten umstritten. Grundlage einer jeder Heldendichtung ist jedoch eine Heldensage, die geschichtliche Ereignisse überliefert und frei weiterentwickelt. Der Interpret des Heldenepos  Gesang vom Leben danach hört auf den sperrigen Namen Stötzer. Dieser Phänotyp bewegt sich seismographisch durch die Hauptstadt der Bewegung. Sein Wahrnehmungsspeicher nimmt dabei vieles auf: Politik, Ökonomie, Kunst, Geschichte. Die Thematik kann man als sehr dunkel bezeichnen, immer wieder geht es um die Vergänglichkeit. Dieser begleitende Beobachter kommentiert die Bewegungen, das Ausklingen des Vergangenen und das Hereinbrechen des neuen Jahrtausends. Die Rolle, die Stötzer hier als Sänger spielt, also als das, was sonst als letztes großes Ego bleibt, ist für Kuhlbrodt eine genau so multiperspektivische Suche.

Ich war überrascht, als ich ihn kürzlich hier traf;/ weil das Beständige ihm ein Ärgernis ist,/ hätte sich Anblick des Platzes für ihn über die Jahre/ abnutzen müssen; die Flucht hinaus zum Völkerschlachtdenkmal (…).

Jan Kuhlbrodt hat ein Requiem geschrieben, einen Gesang vom Leben danach. Grundiert durch unterschiedliche Tätigkeiten in seinem Leben, gestattet der Lyriker auch dem Stötzer viele Ausdrucksformen, Philosophisches trifft auf Humor und Schärfe. Spielerisch probiert der Lyriker die Sprache semantisch, rhythmisch, metrisch aus; das Sinnganze ist kein Ideal mehr. Als poetisches Personal treten weitere Helden auf: Marx, Lenin und Hitler neben Chemiearbeitern, Spitzeln und Theo Waigel. Utopien und Dystopien begegnen sich in Denkmälern, Bibliotheken, in politischen Systemen. Als Antiheld gibt sich dieser Stötzer zuweilen eigenbrötlerisch, er differenziert die unterschiedlichen Schattierungen der Farbe Grau und deutet die Zeichen des Verfalls inmitten blühender Landschaften. Dieser Zyklus trägt viel Bewußtsein für die eigenen Quellen in sich, gelegentlich glaubt man das Faksimile-Knistern alter Amigaplatten zu hören. Dieser Gedichtband enthält eine Vielstimmigkeit in der Einheit.

 Nicht wiederholbar vielleicht. Aber auch darin unterscheide / es sich nicht von andere Episoden. Wir leben im Vorübergehen.

Dieses Langgedicht erzeugt einen Sog, man möchte sich, von Kuhlbrodts Versen geführt, gerne in dieser Stadt verlaufen. Auch wenn das Zentrum seiner Wahrnehmung Leipzig ist, gestattet sich Stötzer Ausflüge ins Hinterland, etwa nach Passendorf alias Halle-Neustadt, oder an den steinigen Grund der Chemnitz alias Kameniza. Hier wird der Text herzzermörsend traurig und bewegt sich nahe am großen Verschwinden. In eben diesen Passagen bekommt dieses Langgedicht eine fluffige Weite, die den Stötzer zu einem Aufklärer werden läßt, jedoch einem, der der Aufklärung misstraut. In diesem Zusammenhang ähnelt Kuhlbrodt konzeptionell dem Ansatz von Weigonis Parlandos. In hochkonzentrierter Form machen diese Lyriker etwas, was nur die Literatur kann: Sie macht Dinge vorstellbar, die man sich nicht vorstellen kann, weil es nicht auszuhalten wäre, wenn man es täte.

Dem Berliner Verlagshaus J. Frank ist, wie zuvor beim Band der Hungertuchpreisträgerin Swantje Lichtenstein, ein sorgfältig und geschmackvoll herausgegebenes Buch, zu verdanken.

 

 

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Jan Kuhlbrodt: Stötzers Lied – Gesang vom Leben danach. Versepos. llustrationen: Ivonne Dippmann 180 Seiten, Preis 13,90 Euro  ISBN: 978-3-940249-67-8 Verlagshaus J. Frank Berlin 2013