Aus dem Hinterland der Lyrikrezeption. Von der Wahrnehmung des Nebensächlichen

Die Megazentren Berlin, Frankfurt, Hamburg und München sind nicht die alleinigen Nervenzentren des deutschsprachigen Lyrikschaffens. Gute Gedichte entstehen auch in der Provinz und werden überwiegend außerhalb der renommierten Großverlage veröffentlicht. In Theo Breuers Buch Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 finden Sie eine ungeheure Anzahl an Namen, Lyriktiteln und Verlagen, von denen Sie bislang weder gehört noch gelesen haben dürften.

Das große Ganze

Dem Hinterland (zog ich während einer TV–Dokumentation über den D–Day die literarische Parallele) kommt aus strategischen Gründen oft eine größere Bedeutung zu als großstädtische Literaturschaffende diesem bisweilen zutrauen. Es ist zwar regelmäßig eher Nebenschauplatz als Agglomerationszentrum bahnbrechender Entwicklung, aber dennoch für das Gedeihen und Gelingen des großen Ganzen unentbehrlich. Hier verlaufen die Nervenbahnen, ohne deren Existenz oder Funktion letztlich auch die Aktivität der Nervenenden lahmt. Dass das „Hinterland“ (nicht zu verwechseln mit „Hinterwald“) mindestens als Bereicherung des Kulturbetriebs, vielleicht sogar als dessen Basis angesehen werden muss, merken manche erst, wenn es nicht mehr oder nicht mehr störungsfrei aktiv ist und notwendige Veränderungen zur Gesundung der Verhältnisse sich vielleicht erst in Jahren positiv auswirken.
Es macht Sinn, die Bedürfnisse und Aktivitäten des Hinterlands nicht aus den Augen zu verlieren, statt in diesem nur Provinzialität und Entwicklungsnotstand zu vermuten. Gute zeitgenössische Literatur entsteht eben nicht nur in den grossen Ballungszentren oder gar ausschliesslich in der Metropole Berlin. Von letzterem zumindest wollte ein in einem angesehenen Großverlag verantwortlich Tätiger einen Autorenkollegen vor kurzem allen Ernstes überzeugen (siehe Aus dem Hinterland, Seite 379). Man kann für Literatur, Verlag und Hinterland nur hoffen, dass diese größenwahnsinnige Einschätzung nicht stellvertretend für den Geist des ganzen Hauses oder die Gesamtheit der den Markt beherrschenden Großverlage ist.

Ehrenvolle, aber unprofitable Sparte

Einer, der selbst aus dem Hinterland kommt und der es sich zur Lebensaufgabe macht, unermüdlich literarische Nebenschauplätze in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung zu rücken, ist Theo Breuer. Sein besonderes Augenmerk gilt der Lyrik, die unter anderem auch deshalb zur literarischen Nebensache wurde, weil man an und mit ihr (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nicht genug verdient. In Zeiten des sich zunehmend verdichtenden Wettbewerbs, in denen auch renommierte Verlagshäuser mehr gemanagt als idealistisch geführt werden, ist die Lyrik zu einer ehrenvollen aber unprofitablen Sparte abgesunken, die am Prinzip Gewinnmaximierung scheitert, an dem jede einzelne Publikation gemessen wird. Das Ehrenamt, nicht nur sich selbst, sondern mit eventuell unrentablen Projekten generös vor allem der literarischen Kultur zu dienen, wollen sich auch gut situierte Verlagshäuser heute kaum mehr leisten. Dies gilt mit besonderer Gewichtung für die Lyrik. Hier wird der Großteil der jährlichen Produktion aus ernstzunehmenden Verlagen (laut Theo Breuer etwa 2.000 bis 3.000 Titel) von kleinen und mittleren Unternehmen getragen, in denen häufig noch Verlegerpersönlichkeiten verantwortlich handeln, die Bücher (Gedichtbände) aus purem Idealismus am Rande der Wirtschaftlichkeit verlegen. So auch in der Edition YE des Lesers, Autors und Kleinverlegers Theo Breuer. Besonders in den Jahren nach 1999 wurde er in der Lyrikwelt durch das Buch Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren, die von ihm bis 2004 edierte Lyrikzeitschrift Faltblatt und viele engagierte poetologische Essays zum Inbegriff des lyrikbesessenen Lesomanen, der Lyrik nicht nur fordert, sondern auch lebt und selbstlos und nachhaltig fördert.

Lyrik(er)leben


In der Lyrikreihe der Edition YE ist nun eine von ihm selbst verfasste fulminante Monographie erschienen, die die erste Hälfte des laufenden Lyrikjahrzehnts beleuchtet. Dies mit einer Leidenschaft, Liberalität und Liebe fürs Detail, die im Lyrikbetrieb ihresgleichen sucht. Axel Kutsch nennt Aus dem Hinterland „ein schier unerschöpfliches Mammut-Mosaik“, Jürgen Kross sieht in dem Werk „eine gewaltige Arbeit“, Dieter P. Meier-Lenz schätzt es als „Fundgrube“ und Karl Otto Conrady lernt in dem 520 Seiten umfassenden Kompendium noch „vieles kennen, was man so nicht im Blick hatte“. Laut Christoph Leisten ein Liebesdienst an der Lyrik, wie es ihn bislang in dieser betörend authentischen Textart nicht gegeben hat.
Die Superlative sind berechtigt. Besonders die von Leisten hervorgehobene Authentizität ist zweifelsohne eine der besonderen Stärken des Buches. Breuers konsequente Subjektivität mag auf Leser, die nicht mehr kennen als die oft hölzernen lyriktheoretischen Betrachtungen schreibender Germanisten, zunächst seltsam und unorthodox erscheinen. Seine enthusiastische Schreibweise ist in der Lyrik bislang jedenfalls einzigartig und ein wohl vielversprechender Weg, die Lyrikrezeption wieder mehr in die Breite zu führen. Breuers Texte machen Lust auf Gedichte, weil sie das Leseerlebnis Lyrik nicht akademisch (v)erklärend oder theoretisierend abarbeiten, sondern pralle Fülle aus der täglichen Lektüre und der leidenschaftlichen Kommunikation mit Gleichgesinnten schöpfen. Die im Verlauf des Buches von Breuer immer wieder betonte Subjektivität seiner Überlegungen, basierend freilich auf jahrzehntelanger Lese- und Lyrikerfahrung, ist der Schlüssel zu einer kraftvollen Eindringlichkeit, die den Leser in ein bisweilen rauschhaftes Lyrik(er)leben entführt. Über allem steht die Absicht, auf die ungeheure Vielfalt der zeitgenössischen Lyrik aufmerksam zu machen und die immer wieder geäusserte Empfehlung, diese zu lesen, zu lesen, zu lesen …

Multi–Dimensionalität

Aus dem Hinterland ist ein Buch mit vielen Dimensionen, nach dessen Lektüre niemand mehr behaupten kann, Lyrik nach 2000 entstehe bei Stubenhockern in muffigen Räumen mit geschlossenen Fenstern und sei weder mitreißend noch aufregend. Theo Breuer beweist das Gegenteil. Man muss sich allerdings etwas Mühe machen, um sie auch abseits der vom Feuilleton nur gelegentlich wahrgenommenen Produktion einiger weniger kanonisierter Verlage aufzuspüren. Breuers Buch ist hierbei von großem Wert: Nachschlagewerk (1.470 verzeichnete Personen, 230 Verlage, 50 Zeitschriften), Anthologie (über 600 zitierte Gedichte), Essay (Autoren- und Verlagsporträts), Lexikon (mit umfangreicher Bibliographierung und teilweiser Kommentierung von mehr als 1.000 Lyriktiteln) und Zitatenschatz in einem. Es setzt sich zum Teil aus in den vergangenen Jahren verstreut veröffentlichten und stark überarbeiteten Aufsätzen zusammen und liest sich wie ein spannender Roman oder ein gutes Langgedicht und ist vor allem eins: eine großartige Werbung für die Lyrik! Die unglaubliche Informationsfülle schließt selbst bei Lyrikkennern zahlreiche Lücken. Besonders an Weiterentwicklung interessierte Einsteiger dürften an dem Buch viel Freude haben, weil sie durch dessen Lektüre eine Menge erfahren und ganz nebenbei zum Insider werden, wenn sie am gelebten Beispiel Breuers unendlich viel über die Lyrik und deren kleine und grosse Zusammenhänge erfahren. 
Selbst bei Lektüre eines Gedichtbandes pro Tag, was unbestritten viel ist und über das Lesepensum der meisten Menschen hinausgeht, die sich lesend und schreibend mit Lyrik befassen, würde es mindestens fünf Jahre dauern, um sich das einzuverleiben, was Theo Breuer an Lektüre für Aus dem Hinterland bewältigt hat. Und auch diese Menge stellt letztlich nur einen kleinen Ausschnitt aller in diesem Zeitraum publizierten Lyriktitel dar. Das Beispiel macht anschaulich wie reichhaltig, ja unermesslich die Lyrikproduktion (trotz Lesermangel) auch heute noch ist und dass auch manischen Viellesern zwangsläufig manches verborgen bleibt. Für Theo Breuer ist jeder Tag ein „Tag des Buches“. Aus dem Hinterland lädt ein, daran teilzuhaben.

 

 

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Weiterführend → Über die Qualität von Andreas Noga als Lyriker und Performer lesen sie hier.

KUNO widmet dem Gedicht auch in diesem Jahr den genauen Blick, das aufmerksame, geduldige, ins Denken gedrehte Lesen und Wiederlesen, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

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