Nachrichten aus Bibliosibirsk

Es gibt in der Literatur keine Zielbänder, keine Leistungen dieser Art, kein Überholen und kein Abfallen.

Ingeborg Bachmann

Jedes endgültige Urteil kommt immer post festum, daher ein Recap mit Spoilern. KUNO beleuchtet seit der Stunde Null, dem Jahr 1989, das Verhältnis von Ästhetik und Kanonizität. In 1999 richteten wir den Spot auf eine die Zeit, als der der Claim für Klangbücher noch nicht abgesteckt war. „Kultur schafft und ist Kommunikation, Kultur lebt von der Kommunikation der Interessierten.“, schreibt Haimo Hieronymus im Gründungstext von KUNO. Im kommenden Jahr geht das Projekt Labor in die Edition Das Labor über (die ausführliche Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier). Im 30. Jahr erklären wir, warum das Projekt Labor sich nie als ›Generationenprojekt‹ verklärte. 

Es gibt keinen schnellen Weg aus der Krise der Kunst.

Der Bedeutungsverlust der Kunst hat nicht nur ökonomische Ursachen. Selbstverständlich ist der wirtschaftliche Aspekt für Künstler der dringlichste. Wir sehen uns mit einem sehr komplizierten Bild konfrontiert, und es wird kein einziges Modell geben, das für jede Edition funktioniert. Die wirtschaftliche Bedrohung hängt mit der Frage zusammen, ob die Menschen der Kunst vertrauen. Warum wollten Menschen bisher informiert sein? Weil ihnen dies half, eine bessere Gesellschaft zu schaffen. Aber glauben die Leute das immer noch? Oder fühlen sich die Menschen machtlos? Es gibt mittlerweile so viele Gründe, warum die Kunst kriselt. Und es wird eine Menge gedanklicher Arbeit erfordern, um all dies anzugehen. Wir haben bisher viel zu wenig darüber nachgedacht, was die Öffentlichkeit eigentlich von uns erwartet.

Die Kultur, die uns trägt, [-] ist in den Grundfesten der Antike verankert– Aber auch diese Grundfesten selber sind kein Starres und kein Totes, sondern ein Lebendes– Wir werden nur bestehen, sofern wir uns eine neue Antike schaffen: und eine neue Antike ersteht uns, indem wir die griechische Antike, auf der unser geistiges Dasein ruht, vom großen Orient aus neu anblicken.

Hugo von Hofmannsthal

Literatur ist der Ort der Nutzlosigkeit, und darin besteht paradoxerweise ihr Nutzen, also seine politische Bedeutung. Die Indienstnahme der Literatur für einen Zweck, auch durch vermeintlich Linke oder reale Rechte, die ohne Wenn und Aber fordern, Literatur habe in einem engen Verständnis politisch zu sein, ist nichts anderes als ein Angriff auf das utopische Potential der Poesie. Die Magie des Erzählens ist so beschaffen, dass sie aus den Bruchstücken des Gedächtnisses und der Imagination eine Idee vom Ganzen wieder erstehen lassen kann.

Ich bin der Auffassung, dass Literatur immer über die Grenzen gehen muss und da, wo sie wichtig wurde, immer über die Grenzen gegangen ist, ob es Anstand betraf oder Moral oder politisches Denken.

Fritz J. Raddatz

Literatur ist dadurch gekennzeichnet, dass sie in erster Linie auf sich selbst zurück verweist. Sie erfüllt allenfalls in zweiter Linie zusätzliche Funktionen wie die der Belehrung, der Erziehung, der Propaganda, der psychotherapeutischen Hilfestellung. Zwar werden sie in einer Warengesellschaft selbst auch zur Ware, aber ihr ökonomischer Stellenwert ist innerhalb des Bruttosozialprodukts gering. Poesie ist stets auch die ideelle Beschäftigung mit dem Utopischen und also mit Alternativen zum Status quo.

Die Interpretation des Germanisten ist seine Rache am Künstler.

Klospruch an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

Anstatt über interessante Fragen zu streiten, kreist man im Literaturbetrieb um Grundsätzliches, eigentlich längst Geklärtes. Das Großartige an der Literatur ist jedoch ihre unendliche Vielfalt, ihre Vielseitigkeit, ihre Möglichkeit, immer wieder neue und überraschende Texte hervorzubringen. Die Frage kann nicht lauten, ob längst alles erzählt ist, sondern, wodurch es Schriftsteller immer wieder gelingt, mehr oder weniger bekannten Themen und Stoffen neue Aspekte hinzuzufügen, der Welt der Bücher und somit den Lesern neue Leseangebote zu machen.

Die Dichter bauen Luftschlösser, die Leser bewohnen sie und die Verleger kassieren die Miete.

Maxim Gorki

Die Literaturgeschichte ist auch eine Geschichte der fortgesetzten Ungerechtigkeiten, falsche Urteile und der Mangel an gebührender Aufmerksamkeit sind nicht die Ausnahme. Über viele wesentliche Dinge im Leben entscheidet der Zufall. Kein Dichter, keine Autorin wird zwangsläufig entdeckt oder übersetzt. Stets gehören persönliche Initiative, verlegerischer Mut und Spürsinn und ein gerüttelt Maß an glücklichen Umständen dazu, damit ein Werk von großer, aber nicht unbedingt mainstreamglatter Schönheit dem Vergessen entrissen und in einen anderen Sprach- und Kulturraum transportiert werden kann.

Die Literatur ist das, was widersteht, das, was sich nicht einordnen lässt, das, was sich keinen Erwartungen unterwirft, das, was gegen den Strich geht, das, was keinen Zwecken dient. Sie ist der Rest, der nicht aufgeht, wenn die Welterklärer mit ihren philosophischen Systemen fertig sind. Sie ist das, was am Ende übrig bleibt.

Hannes Stein

Es gibt Inhaltsleser und Sprachleser. Während sich Sprachleser sich vor Schmerzen bei falschen Bildern und abgelutschten Adjektiven winden, freuen sich Inhaltsleser sich bereits über einen Plot, der auch einmal etwas weiter wegführt und der ihnen eine neue Welt zeigt, neue Zusammenhänge. Dies ist zugegebenermassen idealtypisch betrachtet. Jedes Erzählen bedeutet ein Vergegenwärtigen von etwas Vergangenem. Beim Spurenlesen bleibt die Sinnhaftigkeit einzelner Zeichen im Verbogenen. Jeder Text ist ein Geflecht, das sich auf andere Texte zurückbezieht – und sie damit in einem erweiterten Sinn zitiert, ohne dass das von der Intention des oder der Zitierenden abhinge. Interessanter als das Zitat selbst ist das, was die Zitierenden aus ihm machen. KUNO hat versucht die Literatur aus ihrem konzeptuellen Dornröschenschlaf zu reissen. In der zeitgenössischen Musik hat sich die sich die Abstraktion in einer Radikalität durchgesetzt, wie man sie in der Literatur nicht finden könne. Die Wahrheit liegt nicht beim Erzähler, sondern im Ohr der Zuhörer.

Die Aufgabe ist es, das Gegenteil von dem zu tun, was diese miserable Welt vorschreibt.

Max Horkheimer

Falls Literatur auch Erinnerung ist, dann vergisst diese Gattung auch nicht, woher man kommt. Auf dem Buchmarkt triumphiert der Vorrang kaufmännischer Ziele über den ästhetischen Reichtums. Kunst funktioniert nach den Prinzipien der kapitalistischen (Über-)Produktion. Das Erzählen ist intermedial geworden, die die Artisten des Projekts Das Labor reagierten darauf mit Audio-Art. Die Literatur sieht sich vor ganz neuen Aufgaben: Sie muss eine Welt voller Täuschungen beschreibend erfassen. KUNO versteht sich seit 1989 als ein Labor für Transformation.

Wozu noch Bücher, wenn die Welt zum Roman wird?

„Bordelle des Geistes“ nannte Honoré de Balzac die Rubrik in einer Zeitung, die gemeinhin unter dem Etikett „Feuilleton“ firmiert. Das Internet ist eine Steigerung, eine veritable Müllhalde von Leseschrott. Es gebe einen riesigen Ramsch und Gerümpelhaufen von eBooks, der dem guten Leser die Sicht auf den gestirnten Himmel der Literatur verstelle. Wie betrachten die schier unabsehbare Fülle stiebender Momentandrucke, die Legionen von ‚Theorie‘-Drucksachen, die noch niemanden das ‚theorein‘ gelehrt haben“ und über die endlosen Fuder Kram und Krempel, die auf den Buchmarkt geworfen werden. 100. 000 neue Titel erscheinen alljährlich, von chorischem ‚Siehe da!‘ – und im nächsten Frühjahr landet das meisten im sogenannten „modernen Antrquariat“. Jede Zeit habe ihre eigenen Präferenzen. KUNO bevorzugt eine Literatur, die dem Zeitgeist nicht adäquat ist, ihm vielmehr zuwiderläuft, sich markant von ihm absetzt, ihn souverän konterkariert − eine Literatur, die nicht unbedingt zeitgemäß sein will und somit die Chance behält, über die Gegenwart hinaus wirksam zu bleiben.

Für mich ist die wichtigste Tugend, sich umfassend zu bilden, nachzudenken und am Ende eines langen Meditationsprozesses ein eigenes und unabhängiges Urteil zu fällen. Aus diesem Grund bin ich ein großer Freund des Lesens.

Walter Jens

Literatur arbeitet mit Worten, sie versucht auch die Worte anderer genau zu nehmen. Postmoderne und Realismus sind einander widersprechende, sich ausschließende ideologische Strömungen. Gewiss gibt es hinsichtlich der inhaltlichen Positionen und der formalen Darstellungen deutliche Unterschiede zwischen der Literatur des Realismus und der Postmoderne, doch zugleich beeinflussen heute postmoderne und poststrukturalistische Theorien, Ideen und Schlagworte die zeitgenössische Literatur – und eben auch diejenige, die den Anspruch hat „Wirklichkeit“ abzubilden.

Sprache ist für KUNO kein Mittel identitärer Selbstdarstellung, Literatur keine Vehikel zum Transport engagierter Postwurfsendungen.

Literatur sollte unser Gespür für uns selbst und für die Gewohnheiten und politischen Tendenzen unserer Gesellschaft herausfordern. Ewig frisches Thema sind die in der Tiefe lauernden Menschheitsprobleme, gekoppelt mit der Bebilderung ihrer Hinter- und Abgründe. Literatur wird gemacht, weil man die Dinge in der Sprache unterschiedlich ausdrücken kann.

Poesie sollte Subkutan wirken

Die poetologischen Renovierungsarbeiten sind noch nicht abgeschlossen. KUNO mag noch nicht abgehen von der Utopie, dass Kunst tatsächlich Erlösung verspricht. Das Lesen eines Romans erfordert eine gewisse Zurückgezogenheit, es ist eine Form von Einsamkeit, die nur dem Zweck dient, den persönlichen geistigen, emotionalen und intellektuellen Horizont zu erweitern. Literatur dient der Einübung der Vorstellungskraft, weil sie für die Kultur und Erneuerung der Sprache einsteht, sie ist ein Ort der Metamorphose und kein Zufluchtsort für Identitäten.

Jedes Urteil hängt von der Zeit ab, in der es gefällt wird.

Liebe Leser, lesen sie, Literatur hat kein Verfallsdatum. Die digitale Kultur trägt ihre Endlichkeit bereits in sich, um Platz für etwas zu bislang nicht Geahntem zu machen. Etwas Besseres als den Tod der Literatur finden wir überall.

 

 

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Weiterführend

Die ausführliche Chronik des Projekts Das Labor lesen sie hier. Diese Ausgrabungsstätte für die Zukunft ist seit heute ein Label, die Edition Das Labor. Diese Edition arbeitet ohne Kapital, aber manchmal mit Kapitälchen, sie befindet sich in der Situation des Baron von Münchhausen und muss sich mit samt Pferd am eigenn Schopf aus dem Sumpf ziehen. Eine Übersicht über die in diesem Labor seither realisierten Künstlerbücher, Bücher und Hörbücher finden Sie hier. Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421