Magnetisch

 

Alleingelassen in der Zelle der Erinnerung. Mae sah auf, als sie Schritte auf dem Boden spürte. Vor ihr stand so plötzlich eine Frau mit langen schwarzen Haaren, dass sie unwillkürlich an die Geistergeschichten denken musste, die man ihr als kleines Mädchen erzählt hatte.

»Hier liegt mein toter Hund«, rutschte ihr heraus. Machte mit den Händen eine abwehrende Bewegung. Sie wollte allein sein, sich selbst in einer Meditation auslöschen, da der Tod kein Interesse an ihr hatte. Jacqueline wollte passieren, fühlte sich in Erinnerungspolaroids ertappt.

»Ich hab‘ daheim ein Kaninchen…«, versuchte Jacqueline Verantwortung abzuschütteln, »es hat seidiges weißes Fell!« Sie setzte sich neben Mae. Von weit her klangen die Geräusche der Kirmes, fern, wie von einem anderen Planeten.

»Tiere können einem soviel geben!« Maes Haar schimmerte unter dem Vollmond. „Nachts lassen sich Geschichten besser erzählen…“, dachte Jacqueline, „lange Geschichten, kurze Geschichten. Also erzähl‘, alte Frau. Erzähl‘ von deinem Hund!“

»Er war das letzte Geschenk meines Mannes… dann habe ich unseren Hund erstochen aufgefunden!« Mae fühlte über das Gras und meinte das Fell zu streicheln.

»O, wirklich!«, prustete Jacqueline hinter vorgehaltener Hand. Maes Körper sprach Einsamkeit und Verlust aus, eine überwältigend erlebte Unfreiheit im Weiterleben. Sie ließ ein blütenreines Kichern hören, drückt eine Träne ab, nicht aus Glyzerin, sondern aus reinstem Wasser. Mae sah Jacqueline erstaunt an.

»Sie haben wohl ein wenig zu tief ins Glas gesehen?« Mae wollte endlich allein sein. Sie hatte niemanden, brauchte niemanden mehr.

»Ich glaube schon. Aber nüchtern ist das alles nicht mehr zu ertragen«, erwiderte die Jüngere. „Das Leben ist nicht eingeschnürt in Gedankenmodelle, auch wenn wir es zu unserer vermeintlichen Sicherheit glauben wollen.“, spukte es Jacqueline durch den Kopf. Sie wusste, dass es keinen Sinn machte, noch länger darüber nachzudenken. Wann hatte man schon genug?

»Wollen Sie auch da sein, wo Ihr Hund ist?« In Jackies Stimme schwang ein schaudererregender Unterton mit.

»Wie meinen Sie das?« Mae rückte von Jacqueline weg, zog die Beine an, versuchte aufzustehen, jedoch waren ihre Beine eingeschlafen. Jackie rückte näher an sie heran, streichelte Mae über den Oberarm, sah ihr in die Augen, griff ihr zärtlich über das silbrige Haar, wie sie es bei ihrer Großmutter getan hatte. Sie erinnerte sich an Märchen, die man mit flüsternder Stimme im Dunklen erzählt bekam. Memorierte die modrige Wärme im Bett ihrer Grossmutter, wenn sich Wichte unter’m Bett versammelten und sie mit einem Besen in ein Paralleluniversum vertrieben wurden. Als Kind träumte sie oft von glibbrigen Monstern, tollpatschigen Trollen, und vom Zahnersatz ihrer Grossmutter, der sie klappernd über den kalten Flur verfolgte…

»Wär‘ doch ganz einfach!« Sie zeigte mit dem Finger zum Himmel. Konnte in ihren Augen erst Überraschung, dann Angst und schließlich Entsetzen entdecken. Sie griff nach ihren Schultern, küsste Mae verträumt auf den Mund. Als sie wieder von ihr abließ, war der Ausdruck der Augen der alten Frau ein anderer.

Zum zweiten Mal an diesem Tag fing sich Jacqueline eine Ohrfeige ein. Pegelte die Erschütterung aus. Mae versuchte sich aufzurappeln. Strauchelte. „Himmel, was bildet sich dieses Weibsbild ein.“ Sie wischte mit dem Handrücken über ihre Lippen. Ihre Hände zitterten.

»Verschwinden Sie!«, forderte Mae. Jacqueline legte ihr wölfisches Gebiss frei:

»Sie wollen doch zu Ihrem Hund? Oder etwa nicht? Wie hiess der kleine Köter?«

Maes Hände tasteten langsam und sorgsam den Boden ab. „Langsam, ganz langsam“, dachte sie, „damit diese Schlange nichts bemerkt“.

»Josi!« Weiter über den Boden tasten. Jacqueline rief den Namen in die Nacht. Mae fand einen Stock und zertrümmerte ihn mit einem Schlag auf Jacquelines Rücken.

»Josiiiii!« Jacquelines Stimme brach ab und ging über in ein wirres Lachen, als der nächste überaus kräftige Schlag sie traf und die hämmernden Kopfschmerzen in Gang setzte. „Oh mein Gott“, dachte Mae, es muss uns doch einer sehen. Als sie in Jacquelines Augen sah, wusste sie, dass sie niemand mehr zu sehen brauchte, es war gleichgültig geworden.

»Gütiger Gott!«, murmelte Mae entsetzt. In Jacquelines Augen spiegelte sich das schreckstarre Entsetzen der alten Frau zwischen Gebrechlichkeit und Tod. Jacqueline zückte das Stilett, ließ es aufschnacken. Mit einem katzenhaften Sprung war sie bei der Alten. Bog ihr einen Arm auf den Rücken, beugte sich vor und setzte die Klinge am Herzen an. Ein kurzer chirurgischer Schnitt. Jackie wurde der Fährmann und tätowierte ihr einen Bypass in das Herz. Ihr Blut floss in den Herzbeutel und legte langsam den Herzschlag still. Nach außen drang nur ein einziger Blutstropfen ins Batisthemd. Mae kippte röchelnd nach vorn.

»Machs gut auf dem Hundefriedhof!«, flüsterte Jackie, massierte die Schläfen, um die Kopfschmerzen wegzukneten. Verstaute die Waffe in ihren Doc Martens. Reckte die Arme. Wollte sich in Richtung Schleuse davonmachen. Versuchte, auf die kohleschwarze Seite des Kanals zu entkommen. Kam nicht voran, von Weitem sah sie ihn. Er bewegte sich in qualvoller Bedachtsamkeit auf sie zu. Magnetisch.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.

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