Zeche Unser Fritz

 

Mae konnte von ihrem Platz das Treiben der Menschen beobachten. Sie sah die balzenden Pärchen am Kanalufer, dachte wehmütig an ihren Josef. Hörte das Seufzen, das Stöhnen, ein Wasserglucksen, ein Rauschen. Die Schleusentore wurden geöffnet. Ein Schipper fuhr mit lautem Dieselmotorknattern in die Schleuse ein. Manövrierte den Kahn routiniert in den Schacht. Mae sah ein junges Pärchen hinter den Kirmesbuden herlaufen. Sie schnappte unverständliche Sätze auf. Erkannte die beiden jungen Menschen wieder. Wollte ihnen zuwinken. Erkannte, dass sie sich von der Sonderwache kannten. Nun waren sie frei. „Sind sie frei?“

»Klar, voll der Checker«, rief er ausgelassen und glaubte sich endlich am Ziel der Sehnsüchte.

»Was sagt die Peilung?« Seine Begleiterin war um Sprüche auch nicht verlegen.

»Nord bei Nordwest.«

»Hört sich doch gut an!« Das Lachen des jungen Mannes schallte zu ihr hinüber. Vielleicht wurde es der jungen Frau jetzt doch zu bunt.

»Komm auf Kussnähe ran oder verpiss dich!«, forderte sie.

»Gut dann«, gab er kleinlaut nach. Beugte sich zu ihr herüber und versuchte, die Zunge im Flug zu treffen. Mae hörte, wie die Schleusentore sich schlossen, das Schiff in sein Inneres aufnahm und sich die unterschiedlichen Pegel ausglichen, als die beiden sich wild küssten, sich fast verschlangen. Sie fühlte sich nicht als Voyeurin, sondern wie jemand, der bei einer Vorstellung zusehen darf.

»Zeche Unser Fritz. Abwärts… Going down… down to the Ground. Unter die Grasnarbe. Unter den Meeresspiegel. 1000 Meter unter die Erde! Wer in die Seele des Kumpels blicken will, muss nach Crange hinabsteigen, in die gottverlassene C–Moll–Düsternis. Labyrinthische Gänge in das Innere der Mine. Verzweigtes System durch den Flöz. Wenn die Stützpfosten wegbrechen, bist du tot. Lebendig begraben«, hörte sie den jungen Mann im singenden Ton sagen. Für’s Melodram hatten sie etwas übrig. Über ihnen segelten Wolken nach Osten. Langsam kam frischer Wind auf, um die Hitze zu vertreiben.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.