Ende und Anfang sind derselbe Punkt

Ich lasse mich von den Ideen finden. Deshalb gehe ich niemals ohne Notizbuch aus dem Haus. Mein Notizbuch sieht für die meisten Menschen sehr kryptisch aus.

Julia Kulewatz auf der Leipziger Buchmesse 2019. Photo: M. Paul

Die umtriebige Erfurter Autorin Julia Kulewatz hat das tiefe Bedürfnis, auf eine neue Art zu schreiben, sie folgt einer originellen Art, in der Welt zu sein, dies auch mit diversen Aktivitäten in den sogenannten „sozialen Medien“. Sie schreibt Kurzprosa, literarische Miniaturen und Lyrik. Im Netz stolpert man sogleich über die folgende Kurzbeschreibung zur Autorin:

Julia Kulewatz wurde in einer stürmischen Oktobernacht unter einem roten Jägermond von einer ziemlich wilden Erfurterin in der Nähe von Berlin in die Welt gesetzt. Seit Blut dicker als Wasser ist, kehrt sie abwechselnd nach Berlin und Erfurt heim. Unterwegs hat sie ihr Herz an Seoul verloren. Nur das Herzverlieren hat sie mit einigen ihrer Figuren gemeinsam, denn auf ihren Kopf achtet sie streng.

Themen, die in den Texten von Kulewatz stets wiederkehren, sind etwa Heimat und Heimkehr, Innenraum und Außenwelt, Krieg, Sprachlosigkeit, Traum und Traumata. Darüber hinaus tauchen in ihren Texten häufig Motive des Surrealismus und des Absurden auf. Es scheint, als würde von Erfurt eine geistige Bewegung ausgehen, die sich als Lebenshaltung und Lebenskunst gegen traditionelle Normen äußert.

 „Muttersprache“ ist eines der Wörter, über das ich viel nachdenke und derzeit auch schreibe.

Diese Autorin sucht nach einer neuen Sprache, nach literarischen Texten, die um vieles klüger als die Sachverhalte im Leben. Vom lustvollen Seufzer des Sudankäfers war das Debüt von Kulewatz, ein literarisches Arrangement, das in zwölf Kurzgeschichten und zwei Miniaturen augenzwinkernd allerlei Einfühlsames, Tragisches, Erotisches, Groteskes, Traumhaftes und surreal Verspieltes bereithält. Angesiedelt hinter fremden Zeiten und (un)wirklichen Räumen, irgendwo zwischen Duna und Wadi, verschmelzen in ihren Texten Sehnsucht, Liebe und Hoffnung, Verlust, Freude und Schmerz, Willkür, Wahrheit und poetische Notwendigkeit. Sie erzählen von surrenden Frauenhäuptern, mit Käfertieren gefüllten Badewannen, Spieluhrenpanoramen, stimmlosen Tönen, ertraglosen Apfelbäumen im Restsommerhauch, Kellerglaspalästen in der Unberührbarkeit des Augenblicks und Leuchtkäfern am Rande der Einbildung. Der Leser schließt Bekanntschaft mit koreanischen Wassermädchen, einer Femme fatale, die Aphrodisiaka aus Skarabäenmännchen herstellt, der Schuhe verkaufenden Magierin Grey, dem von Sturzregen und Kreidestaub eingerahmten Mädchen am Fenster, mit Aylin, die nahe bei Gott ist, und mit Irene, die zur Wand steht. Schlussendlich vernimmt der Leser, der Spur einer Ameise folgend, mit ein wenig Glück und Neugier einen Laut, den er im Gewühl des Alltags nur allzu leicht überhören kann – den lustvollen Seufzer des Sudankäfers.

Ich kann oft mit einem einzelnen Wort sehr viel anfangen, so ist das für mich auch mit meinen (Mit-)Menschen.

Mit Jenseits BlassBlau erschafft Kulewatz eine literarische „Blaupause“ der Zwischenwelten, in denen wir uns durch konservierte Paradiese bewegen, unter bedrohten Schwarzpappeln vor zertrümmerten Erinnerungen auf verwundete Soldaten warten oder in der Sprachlosigkeit des eigenen, plötzlich fremd gewordenen Spiegelbildes verharren. Die hier versammelten Kurzgeschichten sprechen mit der Weisheit siebenjähriger Kinder, lassen die Liebe durchsichtig werden und erwecken zartgrüne Jungfrauen aus den Leibern uralter Drachen, die über die Menschen wachen. Wir werden auf abenteuerliche Entdeckungsreisen geschickt, bei denen es nicht weniger zu verlieren und zu gewinnen gibt als eine neue Perspektive auf uns selbst und die uns umgebende, fantastische Wirklichkeit. Dabei verflüssigen sich Raum und Zeit in den Schritten barfüßiger Nixen. Wir fliegen und wir fallen im Wimpernschlag einer Amsel, der das Auge öffnet oder für immer schließt. Mit der Virtuosität ihrer bildgewaltigen Sprache entführt uns die Autorin in die allumfassenden Tiefen des Ozeans, der zugleich Rettung und Vernichtung ist. Sie lässt uns tauchen in den fernen Weiten surrealer Wolkenformationen vor Himmelblau, die nichts anderes mehr sein können als ein blassblaues Jenseits. Die Leser sollten selbst urteilen, ob die Möglichkeiten ihrer Kurzgeschichten wirklich genutzt wurden, ob es der Autorin gelang, etwas über unsere Zeit zu wagen, über unsere Art, das Leben zu sehen, über Menschen, die uns begegnen, die uns weiter bringen oder zurückwerfen.

Ich stehe Wortneuschöpfungen, also Neologismen (oft ohne Logik) eher kritisch gegenüber, wenn man nicht einmal mehr die so genannten Archaismen der eigenen Muttersprache kennt, ihre Wurzeln bespricht und denkt, dann wird es finster in einer Welt aus Bildworten und Wortbildung.

Illustriation: Jantien Sturm

Lyrik ist eine Gattung, die zwischen den Zeilen Zeit und Raum gibt, weil diese Leerstellen dann ihrerseits vom Leser Raum und Zeit einfordern. Gedichte dehnen sich aus, wenn man sie liest. Und wiederliest. Die Orkaniden versammeln insgesamt 30 Gedichte von Kulewatz. Die zweisprachige Ausgabe wird komplettiert durch die englische Übersetzung von Bianca Katharina Mohr. Die Gedichte werden zudem von zehn farbenfrohen Illustrationen der Künstlerin Jantien Sturm begleitet. Das Wort „Orkaniden“ ist eine von der Autorin geschaffene Bezeichnung. Titelgebend ist dabei das älteste Gedicht im Buch, „Orkanide“, das bereits 2012 entstand. Bei den Orkaniden handelt es sich um weibliche Sturmwesen. Kulewatz betrachtet damit das vordergründig männliche Element der Luft von neuer poetischer Seite. In ihren Gedichten finden sich Themen wie Transformation von Schmerz, weibliche Kraft, das Erheben der eigenen Stimme, aber auch das Dichten und Schreiben als Selbstvergewisserung des Lebens sowie das Atmen und Eintauchen in das Lebendige der Welt. Die in den Gedichten auftretenden Motive Wind und Wasser öffnen jenseitige Gedankenräume, ein geradezu verheißungsvolles Land. Die Verse singen von Liebe und Schönheit, malen Sehnsucht und Erwartung, sprechen von Abschied und Verlust. Und dennoch ist diese Lyrik ein Gewinn. Ein Gewinn für die Leser.

Die Elster gehört zu den intelligentesten Vögeln, und es wird angenommen, dass sie eines der intelligentesten nichtmenschlichen Tiere überhaupt ist.

Und in 2021 gibt es noch einen Nachschlag. counting magpies ist ein zweisprachiger Gedichtzyklus in 24 Flügelschlägen, ein Perlenspiel der Worte. Der Name Elster ist etymologisch abgeleitet vom althochdeutschen Wort Agalstra, bei welchem im Laufe der Sprachentwicklung der Anfang und das Ende weggefallen sind. Im Englischen wird sie „Magpie“ genannt. Dabei ist die Vorsilbe „mag“ als die Kurzform für „Margaret“ zu verstehen, die als Spitzname für eine geschwätzige Person verwendet wird, und spielt sicher auf das Schäckern (eng.: „mag-mag-mag“) des Vogels an. Den Beinamen „diebisch“ tragen die Vögel wegen der Vorstellung, Elstern trügen gerne glänzende Gegenstände in ihre Nester ein. Rossini hat 1817 sogar eine Oper La gazza ladra („Die diebische Elster“) zur Aufführung gebracht.

Das Vorspiel zur Diebischen Elster habe ich am Tag der Uraufführung unter dem Dach der Scala geschrieben, wo mich der Direktor gefangengesetzt hatte. Ich wurde von vier Maschinisten bewacht, die die Anweisung hatten, meinen Originaltext Blatt für Blatt den Kopisten aus dem Fenster zuzuwerfen, die ihn unten zur Abschrift erwarteten. Falls das Notenpapier ausbleiben sollte, hatten sie die Anweisung, mich selbst aus dem Fenster zu werfen.

Gioachino Rossini

Illustration: Chris W. Jany

Man merkt den Band counting magpies an, daß Kulewatz nicht ganz so unter Druck gestanden hat, wie Rossini. Das Zählen der Schläge beginnt, wo die Sprache versagt und das Fühlen übermächtig wird. Das Gehirn der Elster zählt zu den höchstentwickelten unter den Singvögeln. Die Fähigkeit zur Objektpermanenz, die sich relativ schnell entwickelt, ist sehr ausgeprägt, was im Zusammenhang mit der Entwicklung des Futterhortens steht. Sie können also die Ortsverlagerung eines Objekts nachvollziehen, das vorher nicht zu sehen war. Mit ihrer Elsterlyrik schlägt Kulewatz gemeinsam mit dem diebischen Vogel Himmelsbrücken. Wenn die Elster ihre Stimme erhebt, wird sie uns nicht von eigener Liebe sprechen. Vielleicht wird sie sich zu einem Kommentar aus dem Fundus ihres Schatznestes herablassen oder die geraubten Gegenstände darin zählen.

Mit ihrer Elsterlyrik schlägt Julia Kulewatz gemeinsam mit dem diebischen Vogel Himmelsbrücken. Sie sind den Liebenden ein Übergang zu allem, was von den zur Lyrik augenscheinlich geeigneteren Vögeln nicht besungen werden kann.

Die Finanzverwaltung hat die Online-Steuer-Software Elektronische Steuererklärung mit dem Namen dieses Vogels als ELSTER abgekürzt. Das dazugehörige Programm Elster-Formular trägt den Dateinamen pica entsprechend dem wissenschaftlichen Gattungsnamen der echten Elstern. Drücken wir dem neu gegründeten Verlag „kul-ja“ aus Erfurt die Daumen, daß sich ihre Arbeit auch für das Finanzamt rechnet.

 

 

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Vom lustvollen Seufzer des Sudankäfers, Kurzgeschichten von Julia Kulewatz, ed(dition)-cetera, 2017

Jenseits BlassBlau, von Julia Kulewatz. Edition Roter Drache, 2020

Orkaniden, Sturmgedichte von Julia Kulewatz. kul-ja, 2021

counting magpies, von Julia Kulewatz, kul-ja, 2021

Illustration: Chris W. Jany

Weiterführend →

Einen Rückblick auf die Verlagsgründung von kul-ja finden Sie hier. Ein Verlagsporträt von kul-ja findet sich hier.

 Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Die Stadt Neu-Ulm hat eine neue Stadtschreiberein: Julia Kulewatz wird vom 1. Mai bis zum 31. Juli 2022 in der Donaustadt wohnen und sie soll in dieser Funktion drei Monate lang einen unvoreingenommenen Blick auf das Leben, die Menschen und die Kultur in Neu-Ulm werfen. Am Ende soll ein Werk über die Stadt und ihre Menschen entstehen. Da sins wir alle mal sehr gespannt.