Der Kulibri schlüpft

Als Fräulein K. eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand sie sich in seinem Bett zu einem Kulibri verwandelt.

Das Fräulein K. stand unausgeschlafen, missmutig und mit zerkratztem Gesicht vor einem Spiegel, der massiv über einer hölzernen Kommode thronte. Das neue Shampoo war nicht ihre beste Idee gewesen. Einzig die goldene, schön geschwungene Schrift auf der billigen Plastikflasche hatte sie bewegt, die bis dato unerforschte Haarwäsche zu erwerben. Das Ergebnis waren verfilzte, unentwirrbare Haare und eine schlaflose Nacht. Das alles zeigte der Spiegel schonungslos. Da war wirklich nichts zu machen. Fräulein K. schwang ihrem Spiegelbild drohend die Bürste entgegen und schrie mit verstellter Diktatorenstimme laut: „Libertaaaas!“

Der schwarze Kater, der das Bett des Fräulein bewohnte, hatte den neuartigen Geruch des zuvor erfolgten Haarwaschgangs nicht ertragen können und fühlte sich seines nächtlich gewohnten Haarversteckes beraubt und damit berechtigt, dem Fräulein K. die halbe Nacht wütend fauchend in das Gesicht zu springen. Das Leuchten der bösen gelben Katzenaugen saß ihr noch immer im steifen Nacken.

Auf der wuchtigen Holzkommode versammelte das Fräulein K. allerlei Bücher, zu hohen, wackeligen Bücherstapeln aufgetürmt. Einzig das kleine Wörtchen „Freiheit“ musste in einem jeden Titel auf dem Buchrücken enthalten sein. Das war der Sache unabdingbar, komme, was da wolle. Zwanghaft zog sich Fräulein K. währenddessen die Haarsträhnen einzeln glatt. Von Gelingen war nicht zu reden. Zwecklos erschien das Unterfangen, als ihr die nunmehr dritte Haarbürste am Griff brach und in ihren Zotteln hängen blieb. Nicht zu bändigen, dachte sie und krachte das stoppelige Bruchstück in Richtung schwarzer Hexenkater. Dieser lachte durch die Augen und verzog sich mit einem Katzensprung.

Hier sollte man erwähnen, dass sich seit Anbeginn der Zeit, also kurz nachdem sich das Denken des Fräulein in einem braunen Lockenmeer wandt, allerlei Seltsames und Kurioses um den Kopf des damals jungen Fräulein K.s einfand. Dieses Seltsame verformte und veränderte sich mit dem kleinsten Gedanken, der geringsten Idee des Fräulein und übertrug sich über eine Arte feines Schwingen bis in ihre Haarspitze hinein. Das ging so weit, bis der erste von vielen verzweifelten Friseuren dem Fräulein K. ein Hausverbot ausgesprochen hatte, nachdem er sicher war, einen waschechten Leguan aus ihren Haaren starren gesehen zu haben. Tzzzz, dachte sie jetzt, wenn der gewusst hätte, dass es sich bei dem Leguan in Wahrheit um eine wahrhaftige Tarnkatze gehandelt hatte, die eben manchmal wie ein Leguan auf Raubzug gucken konnte. Sei es drum, bald schon hatte die Mutter dem Fräulein K. eine große schwere Schneiderschere zum Spielen mit ihren Locken geschenkt und das Lockenleben wurde selbstbestimmter und ganz einfach kreativer.

Im Spiegel zeigte sich dem Fräulein K. inzwischen ein Haarnest. Wie eine seltsame Krone hockte es als eigenwilliges Gebilde auf ihrem Kopf und ließ sie um mindestens fünfzehn Zentimeter größer erscheinen. Zudem ließ sich eine Spur von feinen, leisen Vibrationen aus dem Zentrum des Nestes kommend in der Nähe ihres linken Ohres wahrnehmen. Aber nur, wenn man in einem Raum jenseits von Gut und Böse zu hören vermochte. „Kul“, sie lächelte breit und der Bürstengriff lugte aus den verwirrten Haarsträhnen heraus, als hätte er sich bereits dort eingelebt.

Im linken Ohr des Fräulein K., denn das war ihr besseres, trug das Fräulein das Holz einer befreundeten Berberitze, das ihr eine Künstlerin mit einem geheimen Zauber besprochen hatte, um  selbst Pflanzen singen zu hören. Das funktionierte hervorragend, war der Nachwelt jedoch ebenso wenig zu erklären, wie die gestapelte Freiheit fremdsprachlicher Buchrücken. Es knackte laut. Dann knusperte es vorsichtig. Etwas zerbrach. Und winzige Teilchen wurden über den Kopf des Fräulein K. geschleudert. Jetzt nur nicht bewegen, war die Anweisung, die ihr Herz mit Mauserzeichen klopfte. Die Teilchen, die vom wilden Nesthaar des Fräulein geschleudert wurden, reflektierten golden glitzernd für den Bruchteil einer Sekunde im Flug. „Libertas“, sprach das Fräulein K. und hielt sich Hilfe suchend an frei stehenden Büchertürmen fest. Und dann war es, als könne man ein Blinzeln hören, ein freundliches Zwinkern gar, aber nur mit dem linken Ohr und der befreundeten Berberitze. Etwas, das nahezu sofort fliegen konnte, war aus etwas Aufgebrochenem geschlüpft. Das Fräulein K. neigte seinen Kopf dem Spiegel entgegen. Vorsichtig, damit ihr nichts aus dem Haarnest fallen konnte. Und sie war sich sicher, die Reste eines winzigen, metallisch goldenen Eies auszumachen. Die geschlüpfte Kreatur war deutlich zu hören, ganz in der Nähe ihres linken Ohres. Im Spiegel sah sie ihn fliegen und dachte dabei an ihre geflügelten Kuli-Zeichnungen, die ihrem Nachnamen schon zu Schulzeiten alle Ehre gemacht hatten. Das vibrierende Geräusch entfernte sich flink und mit großer Leichtigkeit und landete schließlich nicht weit vom Kopf des Fräulein K. auf den Büchern der Freiheit, um diese zu besingen. Aber auch das konnte man nur mit dem Berberitzenholz im linken Ohr und der Freundschaft einer Künstlerin, die zuvor lange auf die Berberitze eingeredet hatte, hören. Da saß er also und würde das Fräulein von nun an genauso begleiten wie der schwarze Hexenkater mit den goldenen Augen. Da saß der Kulibri und thronte auf dem Bücherturm der letzten freien Bücher dieser Welt.

 

 

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Einen weiteren Beitrag zu Verlagsgründung von kul-ja findet sich hier.

→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.