Digitalgigantomanie trifft auf Monumentalminiatur

Erzähle nicht die Wahrheit, wenn Dir etwas Interessanteres einfällt

Karl May

Bei Weigonis Novellen Cyberspasz, a real virtuality trifft Digitalgigantomanie auf Monumentalminiatur. Dieser Romancier protokolliert die Erschöpfungszustände von Individuen in einer korporativen Welt, die ohne Außen funktioniert. Weigoni ist ein kühl durchwehter Romantiker seelischer Wildnisforschung; was er bekräftigt, ist die erschütternd beschränkte Geltung aller Dinge, sowie alles Denkens. Entzauberung scheint sein tägliches Evangelium zu sein. Versteht man Sexualität und Pornografie als Metaphern für das Spiel von Macht und Unterdrückung, für den Kampf zwischen Integrierten und ausgeschlossenen Apokalyptikern, für die Sprache der Gewalt und die Gewaltsprache der Ohnmächtigen, dann darf man Weigonis Novellen als treueres und radikaleres Abbild des gegenwärtigen Zustands der deutschen Gesellschaft lesen.

Das Wort Konzeption leitet sich auf dem lateinischen concipere ab: empfangen. Im Werden des Werks setzt sich das Empfangene um, erlischt in seiner Vollendung. Die hybride Metapher der Konzeption zergeht mit der Entstehung des Werks, geht auf in ihm, erfährt eine Metamorphose.

„Das Werk ist die Totenmaske seiner Konzeption“, erkannte Walter Benjamin. Die Idee vom Gehirn als Rechner wirkt befreiend. Die Computer–Metapher ist ein Modell dafür, wie man das Gehirn verstehen kann, obwohl man es nicht sehen kann. So, wie man die Unterscheidung machen kann zwischen Software und Hardware. Das Gehirn ist die Hardware, der Geist ist die Software. Und dann kann man versuchen, die Algorithmen der menschlichen Software zu entschlüsseln. Die totale Freiheit der Kommunikation wird propagiert. Das Internet ist ein Produkt dieses Denkens. In jeder Beziehung. Die äußeren Zwänge mögen gelockert sein, aber die Fesseln blieben schmerzhaft spürbar. Wer meint, er habe nur eine Identität, sitzt in der Identitätsfalle und verleugnet die vielfachen Identitätsbezüge, die den Menschen ausmachen. Weigoni hält das real existierende Absurde in dem Augenblick festhalten, wo es poetisch wird, seine Kunst ist es, den Figuren stets ihre Würde zu lassen, egal in welch desolaten Umständen sie leben. Dieser Romancier will die Reinheit dieser Literaturform bewahren, indem er das Sujet radikal übersteigert, ins Perverse hinein. Cyberspasz, a real virtuality macht damit die Kainsmale unserer Zivilisation sichtbar.

Diese Novellen beschreiben eine Welt, die keine Götter und keine Gewissheit mehr kennt. Wirkt dieser Zyklus zunächst völlig unverbunden, so lässt er sich im Lauf der Zeit quasi kubistisch aufeinander beziehen. Dabei ergibt sich eine einzige Erzählung. Sie ist aber nicht chronologisch aufgebaut. Was Weigoni mit den Erzählungen Zombies begann, führt er mit seinen Novellen ins Grundsätzliche zurück, weg von den Diskursen, die nicht als relevantes Phänomen, sondern als Krankheitssymptom betrachtet werden: Fernsehen, Medien, Verkehr, Reizüberflutung, Überangebot und Überinformation – mitsamt den komischen Seiten, die der so genannte Fortschritt hat. Eine totale Kommunikation bei zunehmender Sprachlosigkeit zieht sich durch den Zyklus Cyberspasz, a real virtuality, Novellen, die lose durch Figuren und Schauplätze im digitalen Erzählen vernetzt sind und sich um reale Virtualitäten drehen und sich zwischen scheinbaren Realitäten und wahrhaften Illusionen bewegen. Hier wird die Realität nicht den Realisten überlassen. Der ‚virtual reality’ zieht Weigoni in den Novellen Cyberspasz die reale Virtualität der Poesie vor. Viel mehr subtiles Können kann man von einem Schriftsteller kaum verlangen.

 

 

* * *

Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermontage: Jesko Hagen

Weiterfühend →

KUNO übernimmt Artikel von Jo Weiß aus Kultura-extra, von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Christine Kappe aus der vom Netz gegangenen fixpoetry. Betty Davis sieht in Cyberspasz eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt in der real virtuality eine hybride Prosa. Enrik Lauer deutet diese Novellen als Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.