Automatisches Schreiben · Poesiemaschine · Eigener Ton

 

Die Entwicklung neuer Methoden führt fast immer zu Fortschritten, mindestens Veränderungen, auf einem Gebiet, zum Beispiel in der Medizin, dem Sport oder in den Naturwissenschaften – und auch in der Poesie.

Um 1920 erfanden die Surrealisten die écriture automatique. Ausführliche methodische Empfehlungen gab André Breton im Ersten Surrealistischen Manifest: Schreiben Sie schnell, ohne vorgefaßtes Thema, schnell genug um nichts zu behalten, oder um nicht versucht zu sein, zu überlegen (…) Fahren Sie so lange fort, wie Sie Lust haben (…), brechen Sie ohne Zögern bei einer zu einleuchtenden Zeile ab.

Die Idee der Poesiemaschine, d.h. einer Gedichte generierenden Maschine, ist alt. Hans Magnus Enzensberger hat ihre Geschichte in seiner Einladung zu einem Poesie-Automaten (Suhrkamp 2000) beschrieben. Das von ihm selbst entwickelte Verfahren stellt hohe Anforderungen an die Software, relativ geringe an die Hardware. Ein zufallsgesteuertes Probegedicht beginnt so:

Vorbildliche Halbheiten in den Gremien. Dieser beklommene
Partnertausch vor dem Erbrechen,
und diese zweideutigen Beschwörungen: Zugegeben! Ohnehin
bedauern wir immer irgendetwas.

Und so endet es:

Ausbrüche, Restrisiken, abblätternde Paradiese. Letzten
Endes sind wir dran.

In den Redeweisen der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, steckt viel verborgene Poesie. Die manchmal sehr seltsam klingenden Fachtermini sind poesiegeeignet (siehe auch: Physik & Poesie), der Redefluss der Abhandlungen lässt sich leicht parodistisch überzeichnen, d.h. karikieren. Ein mittlerweile klassisches Beispiel ist Luckys großer Monolog im ersten Akt von Samuel Becketts Warten auf Godot. Ein neueres Gedichtbeispiel aus eigener Produktion, einen Text über String-Theorie frech verfälschend, geht so:

… mal nachdenken, was sind die Unterschiede
zwischen der O- und der E-heterotischen Theorie,
die mit geschlossenen strings arbeitet … mal
nachdenken … deren rechtslaufende einfache
Schwingungsbewegung denen des bosonischen …
also das passt ja … wenn aber nun ein Stück
des Calabi-Yau-Anteils des Raums schrumpft – ?
He: ein schwarzes Loch ohne Ereignishorizont!

Auch der ›eigene Ton‹ eines Lyrikers, ist er erst einmal gefunden, lässt sich als Methode anwenden und beschreiben. Darauf beruht auch, dass der ›eigene Ton‹ eines tonangebenden Autors von Epigonen nachgemacht, von Satirikern parodiert werden kann.

… über Wüsten und Kahle,
käsig, atrophisch und schief,
das fahle Mondrituale,
bionegativ.

Gottfried Benn? Nein, Wolfgang Buhl, Neue Parodien (1953).

Das parataktische Nebeneinanderstellen von Sätzen, zwischen denen kein Sinnzusammenhang besteht, ist eine andere häufig genutzte Methode. Der sensible (d.h. wohlmeinende) Leser erlebt sofort das Gefühl der Absurdität, des Verloren-, Geworfenseins seiner Existenz. Wenn bei der Anwendung der Methode ein paar semantische Neuheiten untergebracht wurden, jubelt das Feuilleton.

Das geglückte Gedicht entsteht abseits vom Betrieb und ist immer die Leistung eines Einzelgängers.

 

 

 

***

Der Lyriker, Essayist und Aphoristiker Maximilian Zander veröffentlicht seine lakonischen (immer wieder auch metalyrischen) Gedichte u. a. in Literaturzeitschriften wie ndl, Muschelhaufen, Faltblatt und Anthologien wie Axel Kutsch, Versnetze (2005) oder Theo Breuer, NordWestSüdOst (2003) sowie in bislang vier Gedichtbänden erschienen, setzen sich auf ironisch-distanzierte Art und Weise mit Alltag und Gesellschaft aus der Sicht eines welterfahrenen Menschen auseinander.

Weiterführend → Lesen Sie auch seinen Essay über Lyrik.

Poesie ist das identitätsstiftende Element der Kultur, KUNOs poetologische Positionsbestimmung.