SONNE UND EIS

 

ich sehe die sonne allein und nackt mit ausgebreiteten armen und einem schemenhaft verschwommenen bleichen gesicht neben mir unter bäumen liegen. indem sie langsam verglimmend in meinen augen erlischt, weht blütenstaub auf mich herab, den insekten bestäuben, wodurch er ständig aufwirbelt und niederfällt. bald aber umgibt mich rauch, und ich denke, die atmosphäre dünstet so. der qualm jedoch erdrückt die luft. ich spüre, wie mein kopf oberhalb der augenbrauen taub wird, und bemerke, daß der brand aus meinem eigenen fleisch kommt. ich ziehe mir die decke übers gesicht und berühre eine zündschnur auf der haut, die sofort funken sprüht, ehe mir kochend heißes wasser aus dem körper fließt und dutzende küken entschlüpfen, die davonlaufen, wobei die glocken eines nahen klosters läuten. kurz darauf liege ich, mit harnisch und panzer bekleidet, im gelbbraun verbrannten gras unterm verschleierten himmel, und bienen umsummen mich. ansonsten herrscht völlige stille. und die luft lastet lähmend auf meiner brust. unversehens bin ich in einem see von fischen umgeben, und mein gesicht gleitet weiß leuchtend durch ein diffuses licht, das schnell gefriert und mir den atem abdrückt. die sonne schwebt jetzt graublau glänzend überm eis und beobachtet scheinbar gleichmütig, wie ich meinen körper knirschend an der unterseite des eises reibe, um es zu durchbrechen, während die leiber der fische neben mir bereits mit offenen mäulern erstarrt sind.

 

 

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traumnotat aus reise im flug, von Holger Benkel, Verlag blaue Äpfel, Magdeburg 1995

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015