Letternmusik – Ein Blick zurück, und nach vorn

Einmal mehr Weigonis Sabotage des Signifikanten? – Nun, es ist mehr, zweierlei: die Preisgabe der kontextuellen Funktion und die des Wesen des Wortes.

Dr. phil Thomas Laux

Original-Holzschnitt auf das Cover gedruckt von Haimo Hieronymus

Sprache nicht nur Werkzeug, sondern eine selbständige, unabhängige Form der Ästhetik. Die Klangfarben der Worte kann man mit Musik verglichen. Der Gedichtband Letternmusik ist, so besehen, ein sorgfältig komponierter Band, in dem die Gedichte auf vielfältige Weise zueinander in Beziehung stehen. A.J. Weigoni hat diese Gedichte nicht einfach hervorgeholt und reproduziert, sondern sie in einer Rekonstruktion für seiner Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh  – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren  – eine Todeslitanei, neu erarbeitet. Der farbige Reichtum seiner Metaphern, der spielerische Umgang mit den Wörtern und die den Texten ablesbare intensive Spracharbeit sind eigentümliche Kennzeichen dieser Gedichte. Weigoni frickelte manchmal stundenlang an einer Silbe. Er spielte mit den unterschiedlichen Klängen von Vokalen, verkürzte Phrasen, indem er Worte zusammensetzte, baute umgangssprachliche Redewendungen in seine Lyrik ein. Der Zeitpunkt der Entstehung kann nicht einfach nachgemacht werden, es müssen Beweggründe des Schreibens analysiert werden; sie gehen einmal durch die Sprache hindurch, werden reflektiert, der Zustand, die Stimmung ihrer Entstehung wieder aufgerufen. Es ist eine Arbeit mit der Erinnerung und der veränderten Gegenwart.

Es gibt Gedichte von ihm, die sich praktisch selbst tragen, nur durch das, was mitschwingt oder vom Leser hinzuerfunden werden kann.

Constanze Schmidt

Diese Werkausgabe folgt der 1995 erschienenen Erstausgabe, bei diesem Overdub bestimmten der Poet und die Lektorin, wie der Loop überschrieben wird. Der VerDichter wurde zum Sound- und Sprachetüftler, das Ausgangsmaterial dieser phonetische Texturen stammte aus analogen Quellen, teilweise wurden Textvariationen von einer 5 ¼ Zoll Diskette ausgewertet. Sinnfällig wurden die LiteraturClips auf dem Zyklus the vera strange tapes integriert, und es wurden Patikel aus dem verworfenen Projekt vorläufiges zum ästheTrick des widerspruchs montiert, dazu nicht verwendetes Material berücksichtigt, zudem Texte aus entlegenen Publikationen sinnfällig integriert und Überformungen des Sprachmaterials vorgenommen. Dieser Remix ist up to date, aber nicht angestrengt modern.

Weigoni zieht die Sprache aus, reißt ihr die Verkleidungen herunter, schält sie aus ihren Klischees heraus, führt sie zum Ursprung ihrer Bedeutung zurück… die nackte Schönheit der Worte, zärtlich und zornig, stark und klar, betörend und begehrenswert. Sich darin zu verlieren. Zu verlieben. Und vielleicht wiederzufinden, wer weiß… in einer Wirklichkeit – mehrdimensional und auf verschiedenen Ebenen erfühlbar… bei erhöhter Temperatur!

Patricia Brooks

Für diesen VerDichter ist das Medium Buch eine Partitur, die es in Konzerten der Sprache aufzuführen gilt. Die Dreipoligkeit des klassischen Zeichenbegriffs, die Aufspaltung in Bedeutung (Signifikat), Zeichen (Signifikant) und Referent ist das Kompositionsprinzip. Mit hoher Konzentration komponiert der Poeta ludens eine Elegie über die entzweiende Kraft des Eros. Seine Sprache hat Eleganz und Musikalität, und seine Letternmusik ist voller Weisheit und Humanität. Wer sich die Mühe macht, die Gedichte laut zu lesen – was für diese Gattung eigentlich generell zu empfehlen ist – merkt schnell, mit welch unglaublicher Präzision und Raffinesse sie rhythmisiert sind. Das grassierende Etikett Spoken Word ist dafür ein viel zu unpräziser, weil auf den Auftritt schielender Begriff. Das An- und Ineinanderfügen sich ablösender Sinneseindrücke und Denkfragmente zu einem poetischen Komplex, zu einem Kompositorim, das ist eine anspruchsvolle Kunst. Weigoni beherrscht sie. Dies zunehmend im Tonstudio, ähnlich wie Glenn Gould hat er sich an einem bestimmten Punkt seiner Arbeit von der Bühne zurückgezogen, da allein die Studioarbeit dem nahekam, was Weigoni als ästhetische Arbeit gelten läßt. Das Spielen mit Wörtern und das Verschieben der Semantik mit anderen Worten generiet eine Worterotomanie, Linguistik als tanzbares Mantra. Eine Musik aus Buchstaben komprimiert: Polyphonie aus Silben und Wörtern, absolute Musik wie beim späten Monteverdi als Äquivalent für das, was mit Sprache den eigenen Beschädigungen und denen der Welt um diesen kleinen Ich-Mittelpunkt herum entgegengestellt werden kann. Die Rettung hinein ins kulturelle Gedächtnis, auch wenn der Anteil auch noch so gering ist.

 A.J. Weigoni, in puncto moderner Sprachtheorie und Ästhetik ganz auf der Höhe, setzt die verdinglichten Wendungen und Sprechhaltungen kritisch gegeneinander. Er verfremdet mit seiner Letternmusik das Gewohnte satirisch und polemisch. Seinem zornigen Elan fehlt es bei alledem nicht an Pathos und Sehnsuchtsausdruck. Unversehens entsteht bei dieser linguistischen Abräumarbeit ein faszinierender Phantasieraum eigener Art.

Prof. Dr. Franz Norbert Mennemeier

Für einen Moment nur, über die Konventionen unserer Vorstellungen von Lebenszeit hinaus gedacht, sich an einem bestimmten Punkt in die große Gleichzeitigkeit der Künste eintragen zu können, ist das unbescheidene Sehnsuchtsziel für Weigoni. Rhythmisch, lautmalerisch und konsonantenreich macht er Sprache als Material sichtbar. Ihm gilt seine unablässige Aufmerksamkeit: die Sprache, die vor ihm denkt und aus ihrem magischen Ursprung ihre Kraftlinien und Rhythmen mitbringt, ohne die kein dichterischer Text möglich wird. In der Bereitschaft des Lyrikers, sein Schreiben ihrer Eigenbewegung, ihrem Atem zu überantworten, ist Sprache nicht mehr nur Mitteilung oder Aussage; sie wird Evokation, wird eine Dimension von allem Geschehenden selbst, eine Dimension der Bilder, die aus der Erinnerung aufleuchten. Seine Gedichte sind präzis gearbeitete Vexierbilder, die ihre unterschiedlichen Seiten schon beim ersten Anblick erspüren lassen, um dann, bei genauerer Betrachtung, eine Tiefenschärfe bis in ihre filigrane Technik hinein zu entfalten. Diese Gedichte sind ein Sprach-Spiel mit der Aufforderung zum Mitspielen.

 A.J. Weigoni weiß, wie man Dichtung zu Klang macht. Er bringt Ausdruck und Struktur in Einklang, instituiert damit eine auratische Zeichenhaftigkeit dodekaphoner Expressivität und verändert die Sprache mit jedem Sprechen. Die Zeichen geraten in Schwingungen, feste Beziehungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden lösen sich auf.

Dr. Tamara Kudrjawzewa

Die Letternmusik wurde nicht geschrieben, sondern komponiert. Der Remix ist ein Platz für den artistischen Bau autarke Sprachkonstrukte außerhalb der alltäglichen Rede und normierter Sprachregularien. Weigoni gelingt es, aus der Notenschrift eine gesprochene Musiksprache zu entwickeln, seine Leidenschaft ist das kunstvolle und traditionsbewußte Zerlegen und Neukomponieren von Sprache. Bis in die atomaren Bestandteile der Sprache, bis in die Morpheme und Phoneme hineingehen der Zerlegungs- wie auch der Gestaltungswille in diesen Gedichten. Nie geht es in seinen Gedichten darum, Sprachzertrümmerungen um jeden Preis zu organisieren oder gar serielle Permutationen vorzuführen. Wenn er spezifische Techniken lyrischer Raffung, Komprimierung und schroffer Fügung durchprobiert, geschieht dies, um die sinnliche Materialität des Textkörpers erfahrbar zu machen. Seine Sprache ist eine Sprache, die sich immer wieder selbst überprüft. Das vielfach verschlungene Sprechen stellt hohe Anforderungen an die Zuhörenden, manche verschachtelte Sentenz, mancher der unzähligen Literaturverweise bleibt unerschlossen. Überheblichkeit aber kommt schon deshalb nicht auf, weil über allem ein feiner Schleier der Selbstironie liegt.

Die Jaynes’sche These aus den 1970er-Jahren von der “Sprache als Wahrnehmungsorgan” findet in Weigonis Essay eine neue Entsprechung.

Dr. Joachim Paul

Die Letternmusik ist erotische Literatur in einem sehr spezifischen Sinn, nämlich einem über die Sprache alle anderen Sinne kumulativ ansprechenden. Das Wort selbst verwandelt sich in einen lebendigen Gegenstand – ebenso die Zeit. Diese Gedichte dienen als Bühne für die Darstellung von Wut, Trauer, Begierde und Leidenschaft, Hass, Freude, Glück, Hoffnung und Höllenqual, obwohl vom Ich selten die Rede ist. Alles Empfinden steckt in den Dingen und ihren Bewegungen. Melodiöse Rhythmen unterwandert dieser VerDichter mit Rissen und Peitschenhieben. Weigoni bleibt einer Genauigkeit verpflichtet, in deren Namen er den Worten ihre Tiefenschichten abhorcht und den Zuständen der Welt ihre dialektische Wahrheit. Dieses Freigelassene, Strömende entsteht durch Präzision, Klarheit und Konzentration. Die Gedichte dieses Bandes oszillieren zwischen dem lyrischen Protestgedicht und dem politischen Liebesgedicht. Das Gefühl, in einer Epoche der Zerstörung der Welt zu leben, ist in vielen Gedichten Weigonis zu spüren. Was zuweilen erschrickt ist die Kühle, mit der seine Lyrik den Untergang als eine Selbstverständlichkeit zitieren. Sprache wird Trägerin vielschichtiger Bedeutungen, Sprache als Klang, die Stimme als Mittlerin und körperliches Instrument. Diese Gedichte sollen daran erinnern, was Poesie ursprünglich war: Gesang, Melodie und Rhythmus, Reim und Versmaß, Litanei und Mythos. Die Trilogie Letternmusik – ein lyrisches Polydram in fünf Akten, Dichterloh  – ein Kompositum in vier Akten und Schmauchspuren  – eine Todeslitanei – kann im Rahmen der Gesamtausgabe neu erschlossen werden.

 

 

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Letternmusik, Gedichte von A.J. Weigoni, zuerst erschienen beim Rospo-Verlag, Hamburg, 1995 – remastered 2016 für die Edition Das Labor

Remixed von Stephan Flommersfeld

Weiterführend → Jeder Band aus dem Schuber von A.J. Weigoni ist ein Sammlerobjekt. Und jedes Titelbild ein Kunstwerk. KUNO faßt die Stimmen zu dieser verlegerischen Großtat zusammen. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.

Hörproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.