Die Geschichte hinter der Geschichte

Jedenfalls scheint die kommende Epoche für mich von der vorhergehenden sich darin zu unterscheiden, dass die Bestimmung durch Erotisches nachlässt.

Walter Benjamin

Reich an künstlerischer Spekulationskraft und inneren Verwandlungen, jedoch sparsam mit Ortsveränderungen, lebt A.J. Weigoni seit 30 Jahren im Rheinland, in der Zurückgezogenheit, die zu einem zeitgenössischen Poète maudit passt. Man kann sein Leben nicht benutzen, um sein Werk zu deuten, man kann jedoch sein Werk heranziehen, um sein Leben zu interpretieren. Dieser homme de lettres ist ein Mann der Dichtkunst und nicht ein Mann der Literatur. Mit beharrlicher Unangepasstheit versagte er sich erfolgreich die Anerkennung durch die Namenschlecker eines Literaturbetriebs, dessen Rituale er stets bissig glossierte.

Zuschreibungen wie „Avantgarde“, „Experiment“ oder „Marktförmigkeit“ interessieren ihn nicht. Sein bewusstes Verschwinden aus dem Literaturbetrieb ist wesentlicher Teil einer condition poétique, die konsequent am künstlerischen Ideal einer Aufrichtigkeit festhält: der Kunst zu dienen. Für Weigoni zählen die Vernetzbarkeit, die Übertragbarkeit des Materials und seine Bearbeitung in unterschiedlichen ästhetischen Aggregatzuständen. So lässt sich in seinen Arbeiten ein über Jahrzehnte bestehen bleibendes Muster der Hinterfragung erkennen: Seine Poesie ist der Versuch, sich der Vergänglichkeit des Daseins zu vergewissern. Nur wer das Komplexe an dieser Literatur versteht, begreift auch ihren Wert.

Dabei geht es Weigoni nie um blanken Nihilismus, sondern um die Unmöglichkeit eben diesen zu leben. Ideen, Gefühle, Fragen – alles scheint in seiner Poesie im Fluss, wie auch die Zeit selbst. Die Worte, Klänge und Bilder, die daraus entstehen, markieren Momente, in denen dem Strom der Zeit die Gegenwart abgerungen und aus Wirklichkeitsbruchstücken die Vergegenwärtigung in diese Art von Prosa eingeschrieben wird.

Als Sprachskeptiker hält Weigoni die Erinnerung indes bereits für Fiktion. Er hat der Sprachmelodie ihre eigenen Motive abgelauscht und versucht, die deutsche Sprache vor der simplen Verfügbarkeit zu bewahren. Nicht Sinn will dieser Poet mit seinem Werk schaffen, sondern Bedeutung.

Der Roman, analysierte der Romantiker Novalis, ist nicht nur Geschichte, sondern die Mythologie der Geschichte. Diese Mythologie braucht Erzählraum, um ihren Atem zu verströmen. In dieser Tradition verfügt Weigonis Poesie über einen langen Atem.

Auch in seinem Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet ist dieser VerDichter auf einer unermüdlichen Suche nach den richtigen Puzzlestücken seiner Poesie. Als Schwerstarbeiter im Textbergwerk sampelt er aus den Lebenswissenschaften beharrlich das Beste und zieht daraus das Elementarste. Er ist verblüffend zu lesen, wie Weigoni Partikel aus Stasi-Protokollen in seinen Roman sinnfällig hinein montiert und damit diese Diktatur entlarvt.

Poetik der Zäsur, Weglassen der Übergänge. Der Roman Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein Porträt der 1989–er Generation zwischen Lebenslust und Depression, sie spielen ihre Rollen mit der “Coolness der Verzweiflung”. Weigoni seziert einen Moment historischer Ungleichzeitigkeit, das Leben in der alten BRD war eine öde Reihung immer gleicher Tätigkeiten. Seine Literatur der Ort des Versprechens, an dem sich Ausbruchsfantasien durchspielen lassen, an dem das Leben Gestalt annehmen darf. In hochemotionalen Situationen enthüllt sich das Verhältnis von Politik und Liebe, öffentlichem und privatem Denken und Handeln an Lebenshorizont der Figuren auf drei Ebnen: das Trio Charlotte / Moritz / Jane, die so genannte Wiedervereinigung und das Kraftwerk der Gefühle, die für diesen Roman erfundene Oper Les liaisons dangereuses.

Erinnerungsjahre stiften eine Illusion von Simultanität. Was aber brach, welche individuelle Zeit sich wendete, das ist immer auch ein lebensgeschichtlicher Befund. Davon erzählt, jenseits aller Kollektivgedächtnis-Propaganda, die Literatur. Weigoni scannt die neuralgischen Punkte deutscher Identität ab und entlarvt das Sprechen als eine redselige Art des Verschweigens, das vermeintliche Erinnern als eine besondere Form des Verdrängens, das Vergangenheit–Bewältigen als eine Spielart des Sich–vom–Leib–Haltens. Seine Kunst handelt nicht von der Erinnerung, sie stellt sie in Frage.

Eine komplexe Fiktion hat ihren Preis. Ein Schriftsteller entrichtet ihn in Form von Lebenszeit. 25 Jahre hat Weigoni gebraucht, um diesen Roman zu vollenden. Dieser Romancier vermag den grossen Stoff auf eine Weise zu kondensieren, ohne ihn dadurch klein zu machen. Es ist nicht geklärt, wie sich am 9. November 1989 historischer Zufall und politische Absicht wirklich begegnet sind. Dieser Augenblick erscheint als buchstäblich exzentrischer Moment, er beschreibt die deutsche Geschichte des 20. Jahrhundert en miniature: „In dieser Nacht fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks, düstere Heiterkeit, all seine närrische Vernunft. Hier trommelt der deutsche Spott, hier küsst die deutsche Liebe“, legt Weigoni der Figur Moritz in der Szenekneipe „Rosa Lux“ der Ost–Punkerin Anne gegenüber einen Satz des von ihm sehr geschätzten Heinrich Heine in den Mund – nicht der einzige Sub–Text – außerdem konnte er sich den Wunsch erfüllen, einen Trick zu transferieren, den er bei Karl Barks immer bewundert hat, das Grosse im Kleinen zu spiegeln. War es bei Barks für Daniel Düsentrieb die Figur „Das kleine Helferlein“, so kommentieren die kleinen Liebesgeschichten der Nebenfiguren die ménage à trois: Charlotte / Moritz / Jane. Diese Paarungen geraten aneinander, allzu oft auch nebeneinander. In der Lücke dazwischen stecken die Dramen. Wer diesen Kitsch nicht riskiert, ist für die Kunst bereits verloren.

Als Kartograph der Gefühle legt Weigoni bei dieser éducation sentimentale das Politische im Privaten frei. Er schreibt von Liebe, ohne in den Emotionsbaukasten zu greifen. Im wiedervereinigten Deut–Schland hat man die Idee, Nation als Erregungsgemeinschaft zu sehen. Die Menschen allegorisieren Gesellschaft im Bild der Kleinfamilie, verleiblichen die geteilte Nation als getrenntes heterosexuelles Paar oder metaphorisieren die Krise beziehungsweise den Tod der DDR in der Krankheit beziehungsweise dem Tod der Mutter. Sie denken so, weil das die klassischen literarischen Verfahren sind, die schon in der deutschen Romantik zur Anwendung kamen, also in einer Zeit, in der das „deutsche Volk“ zum ersten Mal erfunden wurde. Im Zuge dessen wurde das Land mit der Mutter assoziiert, und damit Ersteres blühen konnte, musste Letztere sterben. Nachgefragt werden die Mythen, wenn die Fiktion Geschichten für eine nationale Verbundenheit liefern soll, die realiter nicht gegeben ist, aber von der Mehrheit für notwendig erklärt wird.

Wenn die Nation als „imagined community“ ein Wunschbild und eben nicht Wirklichkeit ist, steht die gekommen istErinnerung hinter der Erinnerung zwischen allen Zeilen. In »Abgeschlossenes Sammelgebiet« wird reflektiert, was Gegenwartsliteratur selten zumutet: Die Frage nach der Möglichkeit einer besseren Welt, inklusive aller melancholischen Zweifel, die ein Privileg der Jugend sind, zugleich aber mit einem nachschwingenden Veränderungsfuror, von dem die heutige Generation nur träumen kann. Hier wird der Versuch unternommen, eine Heimat zu rekonstruieren, die abhanden gekommen ist.

Eindimensionale Figuren interessieren Weigoni nicht, er schätzt komplizierte, vielschichtige, authentische Charaktere. Charlotte ist eine Journalistin, welche die Souveränität des Handwerks mit dem Pathos der Bekennerin vereint. Ihr geht es nicht nur darum, das Ego zu befriedigen, sie denkt stets auch an ihre Rezeption.

Moritz ist nicht der unwiderstehliche Beau, den man erwarten könnte. Weigoni verleiht dieser Figur eine agile Präsenz, die wunderbar zwischen Nonchalance, Sanftheit und zupackender Entschiedenheit zu changieren weiß. Dieser stolze Sonderling pflegt bei wachem Verstand und überlegener Rhetorik die Neigung zum Menschheitspathos, als hätte die Welt alleine auf ihn gewartet. Ein denkbares Scheitern ist für ihn die Grundvoraussetzung für ein mögliches Gelingen.

Jane ist nicht nur eine schöne Opernsängerin, sie hat auch eine Stimme, die bei Moritz und Charlotte unterschiedliche Erregung auslöst. Das Etikett Vollerotik wird dieser Diva in den fiktiven Kritiken zugeschrieben. Souverän schneidet sie durch die krakeelende, ihren Ennui pflegende oder eben zugesaute Kulturszene.

Nüchternheit, Sterilität und Kontrollwahn sind nur Masken, unter denen der Eros lauert. Jede Verdrängung provoziert vulkanische Ausbrüche: Und diese Idee ist natürlich so alt wie das menschliche Erzählen selbst. Es steckt aber immer noch, und immer wieder, neue Wahrheit darin. In diesem Roman findet sich eine Mischung aus Balzacschem Beschreibungsfuror und Joycescher Gegenwartsvibration, fragmentarisch und doch das Ganze anvisierend; ins Unendliche ausgreifend und doch ins Geschlossene mündend; linear fortschreitend und doch die Chronologie immer wieder aufbrechend; nach dem schlüssigen Aperçu suchend und doch im Vorläufigen der prekären Suchbilder verharrend. Wie auf einem Schachbrett ordnet Weigoni seine Figuren an, führt Züge mit ihnen aus, positioniert sie, formt Konstellationen, Abhängigkeiten, letztlich Schlagkraft. Im Gegenzug kniet der Romancier sich wechselweise in deren Innenleben, evoziert Bilder und Stimmungen für Gefühlslagen, welche die Figuren zwar selber nicht verstehen, jedoch mit diagnostischer Sorgfalt zur Kenntnis nehmen müssen.

In jedem Satz tickt die Uhr. Weigonis Literatur hat mit der Schönheit zu tun, die Sprache entfaltet, wenn man sich ihr sorgfältig, leidenschaftlich, wütend oder begeistert, auf jeden Fall aber gänzlich anheim gibt. Seine Sätze sind zuweilen von der engen Alltagslogik, mit der man gemeinhin sein Leben meistert, angenehm entkoppelt.

Dieser Roman ist ein Gegenkommentar zum zentralen Topos der literarischen Moderne, dem unaufhörlichen Verschwinden des Individuums, welches sich allein mit den Mitteln des Romans abbilden lässt. Zeitzeugen sterben aus, Erinnerung wandelt sich in Geschichte. Synchron wird in diesem abgeschlossenem Sammelgebiet die Geschichte hinter der Geschichte erzählt, der Plot gerät zum Komplott. Weigoni ist der letzte Schriftsteller der Moderne, seine Prosa ist von den extremen Verhältnissen in Deutschland geprägt, welche die Erfahrungen in einer zerrissenen Welt ausdrückt, die auch die des Lesers ist, die mit großer Ernsthaftigkeit geschrieben sind und mit einer verschwenderischen Schreibweise die Leser immer tiefer in die Geschichte hineinzieht.

Abgeschlossenes Sammelgebiet ist ein Buch des Innehaltens, gerade weil es Weigoni gelingt, jeden Anflug von Sentimentalität mit poethologischer Klugheit zu unterlaufen. Schreiben bedeutet für diesen Romancier das eigentliche Leben, eine höhere Form der Erkenntnis. Walter Benjamin glaubte, dass die Geschichte nicht mehr aus einer linearen Abfolge von Handlung und Wirkung besteht, sondern sich auflöst in arabeske Schleifen. Vergangenheit gehört daher neu aktualisiert. Als Erzähler von Geschichte gönnt Weigoni den Figuren die Gnade des Humors und die Freundlichkeit der Farce. Bleibt zu hoffen, dass seine liebevolle Verbeugung vor den deutsch/deutschen Widersprüchen so verstanden wird, wie sie angelegt sind. Aber man kann für seine Leser bekanntlich nichts, wir leben alle von Rezipienten, auf die wir keinen Einfluss haben.

 

 

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Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2014 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Weiterführend → Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Den Klappentext, den Phillip Boa für diesen Roman schrieb lesen Sie hier. Eine Rezension von Jo Weiß findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf der vom Netz gegangenen Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt.