Amba Mata

 

Die Sonne überschritt den südlichsten Punkt ihrer Himmelsbahn, und an diesem Tag begann der astronomische Winter und der Nachthimmel wurde regiert von Saturn, dem Planeten der Ringe, der kurz vor Mitternacht im Gegenschein der Sonne stand. Jani schloss die Augen. Seine Gedanken waren alles was er besaß.

„Ich trinke ohne zu trinken“, sagte er den Ärzten.

Der achtzig Jahre alte Inder brach sein langes Schweigen und sagte, er habe nach dem Ende des letzten Weltkrieges nichts mehr gegessen und getrunken. Die Ärzte glaubten nichts. Sie untersuchten und beobachteten Jani in einem gläsernen Käfig, der im Innenhof der Neurologie errichtet wurde, Tag und Nacht von Videokameras überwacht, umstellt von den Reportern der Weltpresse. Nach zehn Tagen konstatierte der Direktor der Universitätskliniken Neu Delhi in einer Pressekonferenz: „Jani hat nichts gegessen, nichts getrunken, und kein Gramm verloren. Leber, Niere, Darm, alle Organe arbeiten.“ Keiner hatte eine Erklärung für diese ungeheuerliche physiologische Anomalie. Vielleicht waren göttliche Kräfte im Spiel. Alles was er brauchte, war die Luft des Himmels. Er sei noch nie krank gewesen, berichtete die „Hindustan Times“.

Saturn stand hoch im Süden der Zwillinge und war die ganze Nacht zu sehen, während die weiße Venus nach Sonnenuntergang tief am südwestlichen Horizont stand.

War Jani ein Zauberer? Aber wie sollte er, ein Gefangener, die ganze Welt, die ihm zusah, betrügen? Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir nicht verstehen. Sinnlos die Suche der Wissenschaftler nach der objektiven Wahrheit. Das Leben ist ein Geheimnis oder eine Absurdität, das ist dasselbe, und so ist es gut.

„Ich versteh mich selber nicht. Ich staune, dass ich lebe.“

Jani erinnerte sich an eine alte Freundin, die nicht mehr leben wollte, weil sie das Augenlicht verlor. Sie konnte nicht mehr Auto fahren. Sie verlor das Leben aus den Augen, wurde immer trauriger und wollte sterben. Der Arzt gab ihr den Rat, nichts mehr zu essen. Sie trank jeden Abend ein Glas Wein, das war alles. Bald wurde sie immer schwächer, aber sie verlor die dumpfe Traurigkeit, unter der sie in den letzten Lebenstagen so litt, und gewann eine ungeahnte Todesfreude. Im rasenden Aufschwung kurz vor dem Ende sagte sie: „Das ist die schönste Zeit meines Lebens.“

Die Zeit verging. Es kam der zwanzigste Tag in Janis gläsernem Vorhof seiner letzten Verwandlung, der dreißigste, dann der vierzigste Tag. Jupiter erschien weiß im Löwen und löste Mars am Himmel ab, der wenig später unterging. Der Abendhimmel wurde im Süden beherrscht von den Herbststernbildern mit der Andromeda-Sternenkette. Jani saß aufrecht in der Mitte seiner Zelle. In dieser Haltung schlief er, wenn die Nacht hereinbrach. Tagsüber ging er mit leichten Schritten stundenlang über die Seitenlinien und Diagonalen des Glaszimmers. Die Weltöffentlichkeit registrierte jede Bewegung mit ungebrochener Neugierde. Zeitungen, Radiosender und Fernsehgesellschaften erörterten aber immer direkter die Frage, ob Wissenschaftsbetrug im Spiel sei.

„Dehydration erhöht die Konzentration von Salzen und anderen Substanzen im Blut“, erklärte ein Experte in der Hindustan Times. „Normal ist ein Wert zwischen 275 und 295 Milliosmol pro Kilogramm Körpergewicht. Wenn dieser Wert überschritten wird, befiehlt der Hypothalamus der Hirnanhangdrüse, das antidiuretische Hormon auszuschütten, das die Schleusentore des Körpers schließt. Diese Substanz signalisiert den Nieren, die permanent den Wasseranteil des Bluts filtern und daraus Urin extrahieren, jetzt mehr von dem Wasser, das sie mit dem Urin ausscheiden, zu resorbieren. Die Urinmenge wird geringer. Schon lange vor dem Durst befiehlt das Hirn den Nieren, das Wasser im Körper zu halten…“

Jani hatte keinen Durst.

„…Der Dehydrationsprozess beschleunigt sich. Bei acht Prozent Wasserdefizit schlägt das Herz vierzig Schläge pro Minute schneller“, stellte E. F. Adolph (Physiology of Man in the Desert, New York 1947) bei Experimenten mit Soldaten fest. „Aber das Herz pumpt mit jedem Schlag weniger Blut. Da das Wasser im Blutplasma benötigt wird um den Körper mit Schweiß zu kühlen, wird das Blut dick wie Maschinenöl. Der Puls steigt und der Blutdurchsatz sinkt. Das Herz muss sich immer mehr verausgaben um das schwere Blut zu transportieren.“

Jani hatte einen ruhigen Puls, sechzig Schläge in der Minute.

„In diesem Tal gibt es kein willentliches Weiter mehr“, sagte er. „Ich verliere mich. Mein Gehen ist vorbei, nun werde ich gezogen.“

Viele deuteten seine Worte als Vorbereitung des Scheiterns. Bog Jani das physische Experiment ins Metaphysische um? Die medizinischen Werte, die ärztlichen Bulletins – das war die eine Seite der Wirklichkeit. Die andere Seite war schwerer. Ahnungen, Hirngespinste, Skepsis. Der Direktor der Unikliniken vermutete in der täglichen Pressekonferenz, eine junge Schwester, die das Ärzteteam unterstützte, sei dem Asketen verfallen. Tatsächlich war in einer Videoaufzeichnung zu erkennen, wie sich die Schwester über ihn beugte, der Rest war pure Spekulation. Ein Kameramann geriet als nächster in Verdacht. Der Verdacht lief ins Leere, an den Käfig kam niemand heran, kein Stoff drang von außen in die Glaskammer. Da geschah das Unerwartete.

Am Morgen des fünfzigsten Tages kündigte Jani, der kerngesund war, seinen Tod an. Die Weltpresse brach in die Klinik ein. Mit der flachen Hand zerschlug Jani das Glas, das zersplitternd auf ihn fiel, und erhob die Arme. Als das Rattern der Kameraschüsse und Blitzlichter erloschen war, rief er in die Mikrofone:

„Wie soll ich verhungern, wenn ich keinen Hunger habe?“ – und starb.

Die Ärzte waren ratlos. Die Obduktion ergab keinen medizinischen Grund für den plötzlichen Tod. Die Welt stand Kopf. War Jani jetzt frei? Was bedeutet das alles für uns? Schwere Fragen sind das, noch schwerer unsere Antworten, so oder so! Im Lauf der Nacht folgten die hellen Sterne mit dem Himmelsjäger Orion, in diesem Jahr mit den hellen Ringplaneten. Mahisch, der Büffeldämon, bedrohte das Universum. Da baten die Götter Schiva um Hilfe. Schiva riet allen Göttern, ihre Schaktis freizugeben. Sie verschmolzen, weiblich, in gleißendes Licht, das blind machte. Daraus stieg die Göttin mit vielen Armen, die allmächtige Amba Mata. Sie war so schön wie tödlich, ein betörendes Weib, erfüllt von Raserei. Die Götter rüsteten sie mit allen Waffen aus. Da ritt sie, die Unbesiegbare, nackt auf einem Löwen zum Gipfel des Berges und wirbelte ihre Arme so schnell gegen die Luft, dass das Licht des Himmels zitterte. Amba Mata zerschnitt die Zeit Mahischs, schachtelte den Raum der Feinde und faltete die Körper der Dämonen, bis sie rot zu Tal tropften.

 

 

***

DR 64, die Literaturzeitschrift aus der Bundesstadt Bonn, 2023

In der Bundesstadt Bonn bezeichnet man Graffitis als „Street Tattos“. Schön, dass die 1981 gegründete Literaturzeitschrift nun die Hip-Hop-Kultur entdeckt hat.

Weiterführend  „Will you still need me, will you still feed me / When I′m sixty-four?“ trällerte eine Rhythm & Blues-Combo aus Liverpool. Wir stellen in diesem Online-Magazin hin und wieder Literaturzeitschriften vor, z.B. die Matrix. Einzelne DICHTUNGSRINGer sind auch anderen Literaturzeitschriften verbunden, wie etwa dem Krautgarten oder der Matrix. KUNO konsultiert den Wert des Analogen und dokumentierte den Grenzverkehr im Dreiländereck.

Ulrich Bergmann nennt seine essayistischen Alltagsbetrachtungen ironisch „gedankenmusikalische Polaroidbilder zur Illustration einer heimlichen Poetik des Dialogs“. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO zu den Arthurgeschichten auch den Essay von Holger Benkel, sowie seinen Essay zum Zyklus Kritische Körper.