Die analoge mail • Revisited

Ein Briefwechsel ist ein Gespräch unter Abwesenden.

Die wahrscheinlich erste rhetorische Brieftheorie über diesen Austausch stammt vermutlich von Artemon aus dem 1. Jahrhundert. Im Vorwort seiner Aristoteles-Briefausgabe nennt er den Brief die eine Hälfte eines Dialoges, den Briefwechsel „ein Gespräch unter Abwesenden“. Seit jeher dienen Briefe der Kommunikation, der Selbst- und Fremdinszenierung, der Selbstaussprache und Reflexion oder der Beziehungsarbeit. Sie sind komplex, überstrukturiert – und zuweilen ist es eine Freude sie zu lesen. Die Funktionen, die Briefe übernehmen können, sind von ihrer Ästhetik nicht zu trennen, dies beschreibt der Band „BriefKunst. Der andere Blick auf Korrespondenzen“ eindrücklich. Augenfällig wird die Ästhetik, wenn die Briefe beispielsweise Zeichnungen enthalten oder wenn sie Teil eines fiktionalen Werks sind. Sie können aber auch einen Imaginationsraum entwerfen und so zu Sprachkunstwerken werden. Jeder Brief der hier untersucht wird, hat seine eigene sprachliche oder phänotypische Ästhetik.

Eine Wechselrede unter Freunden in Abwesenheit.

Cicero

KUNO betrachtet die die Sonderstellung des Briefes als Medium der Kommunikation. Diesem Medium wird die Fähigkeit zuerkannt, Spiegel der Seele zu sein oder eine Präsenz zwischen den Briefpartnern herzustellen, die deren räumliche Trennung nachgerade aufzuheben vermag. Zu diesen, in der Theorie genannten Aspekten, treten noch vielfältige Formen der Selbstrepräsentation, die häufig bereits ein über den primären Adressaten hinausgehendes breiteres Publikum im Blick hatten. Der Band „BriefKunst“ versammelt Beiträge, die die Verbindung von Brief und Kunst ernst nehmen und die Briefe als eigenständige ‚Werke‘ beschreiben. In kurzen Essays, die an die Liebesbriefforschung von Renate Stauf anschließen, tritt diese Ästhetik von Briefen hervor, er schreitet ein weites Feld ab, das vom Mittelalter bis in die Moderne reicht. Die in diesem Buch angedeuteten vielfältigen kommunikativen Möglichkeiten des Briefs werden hier dargelegt. Im Zentrum der Untersuchung stehen dabei die grundlegenden Konstituenten eines Briefs, nämlich ‚Adressant‘ bzw. Absender und ‚Adressat. Gefragt wird nach dem Verhältnis von Personenkonstellation, Kontext und Kommunikationsstruktur eines Briefs, aber auch wie sich die verschiedenen im Brief zu greifenden kommunikativen Strategien in der textinternen Modellierung von Adressant und Adressat niederschlagen. Die Frage nach der Literarizität von Briefen schließt sich unmittelbar an diesen Aspekt der Briefkultur an. Gerade bei Schriftstellern können Briefe oder Briefwechsel nicht nur wichtige biografische Details liefern. Sie können überdies zur hermeneutischen Handreichung werden, neben der Werkerklärung mitunter gleichberechtigt neben das Werk treten, im gelingenden Fall zu einem Kollegengespräch.

Augenblicklichkeit und Flüchtigkeit gehen auch beim elektronischen Brief eine untrennbare Verbindung ein. Die Kollegengespräche demonstrieren die kommunikative Bedeutung einer untergegangenen Kulturtechnik

Zwischen 1995 und 1999 hat A.J. Weigoni im Rahmen seiner Arbeit für den VS (Verband Deutscher Schriftsteller in der IG Druck und Papier) Kollegengespräche mit Schriftstellern aus Belgien, Deutschland, Rumänien, Österreich und der Schweiz geführt. Sie arbeiteten am gleichen „Produkt“, an der deutschen Sprache. Die Publikation ist zum 30. Jahrestag des VS erschienen. Eines der wichtigsten Medien, die Aufschluß über Intentionen, Erfahrungen und Einstellungen von Autorinnen und Autoren gibt, ist heute beinahe völlig verschwunden. An die Stelle der Briefpost ist weitgehend die elektronische Mail getreten. Der Briefwechsel aus der Reihe Kollegengespräche demonstriert die kommunikative Bedeutung einer untergegangenen Kulturtechnik. Diese Dialoge sind zugleich literarische Dialoge und dialogische Literatur, wir lesen Dialoge der Schriftsteller auf die Spur dieser Beziehungen und Interaktionen in doppeltem Sinne. Die Kollegengespräche sind eine lesenswerte Parallelerzählung zu Biografie und literarischem Œuvre.

Gefährliche Briefschaften

Postwertzeichen erschienen zum 20. Jahrestag der DDR. Entwertet am 9. November 1989

Mit Schriftstellern ein Interview zu führen, ist – um es diplomatisch zu sagen: schwierig. A.J. Weigoni ist überzeugt davon, daß ein Gespräch zwischen Menschen, die sich nicht kennen, unmöglich ist, Menschen die ein Gespräch führen wollen, sind bereits verdächtig. Der Leser, der solche Kollegengespräche liest, möchte vor allem eines: sein Augenmerk für die Interviewten schärfen; ihre Texte mit neuer Intensität oder neuem Hintergrundwissen (wieder)lesen. Der Briefwechsel ist eine Realistion der Distanzkommunikation, der Textsorte Brief ging die Individualisierung der bürgerlichen Gesellschaft voraus. In kaum einem anderen Phänomen wie dem weit verzweigten Briefverkehr spiegeln sich wesentliche sozial-, literatur-, kultur- und geistesgeschichtliche Prozesse. Selbstreflexion und subjektive Wirklichkeitswahrnehmung wurden zu Kommunikationsinhalten, über deren Thematisierung sich eigene Identität und soziale Beziehung zur Umwelt manifestierten. Man verabschiedete sich im 18. Jahrhundert von den Vorgaben der weit verbreiteten Briefsteller. Daher betrachtet Weigoni das Projekt Kollegengespräche als eine eigenständige literarische Form, die sich auch als Inszenierung oder Ritual beschreiben läßt.

Schreibe wie du redest, so schreibst du schön.

Lessing

Aus der Reihe post . WERT : [zeichen I von Adolf Tuma

Weigoni hielt dem jeweiligen Interview-Partner zwischen 1995 und 1999 nicht einfach ein Mikrofon entgegen, er brachte in das Gespräch vor allem seine eigenen Erfahrungen mit ein. Ausgangspunkt war die Rezeption von Literatur im neuen Deutschland. Mit seinen Gesprächspartnern stimmte Weigoni weitestgehend darin überein, daß man Literatur nicht nur den „Fachleuten“ überlassen sollte. Der Begriff ‘Immunität’ hat unsere Weltanschauung, das Selbst- und Weltbild des modernen Menschen, nachhaltig geprägt. Sprache ist demzufolge ein Virus, das sich – von Mund zu Mund, von Buch zu Buch, von Website zu Website – schneller vermehrt, als die Diskurspolizei erlaubt. Das scheint ganz besonders für die Sprache der Infektion selbst zu gelten, von der Semantik der Ansteckung. Dies geschieht umso leichter, wenn die fraglichen Wörter ihrerseits bereits mit Bildern infiziert sind, die ursprünglich nicht der wissenschaftlichen Sphäre entstammen, sondern der poetischen.

Kann es eigentlich eine Sprache geben, die den Lesern nicht auf die Nerven geht?

Für diese Form von Gesprächen nahmen sich die Schriftsteller Zeit. Viel Zeit. Oft mehrere Monate. Mit einem etwas veralteten Medium – dem Briefeschreiben? – stellten sie sich Fragen, die auch eine breitere Öffentlichkeit interessierte. Im Laufe der Zeit ergab das allmählich die Form einer journalistischen Gattung, des Interviews, bei dem im günstigsten Fall zwei Insider über das reden, von dem sie mehr verstehen als „Literatur–Wissenschaftler“.

Deutschsprachige Literatur als demoskopisches Küchenstück?

Obzwar unter den Zeltschrägen eines gemeinsamen Umschlages, bilden die Schriftsteller dieses Projekts keine einheitliche Gruppe. Es gibt keinen gemeinsamen arspoeticagleichen Ansatzpunkt als den, Literatur anders einzuordnen, um schließlich eine Art literaturkritischer Mutation hervorzuzaubern. Eben durch die Unterschiedlichkeit der Texte, durch die Unvereinbarkeit der gezielten Darlegungen und dank dieser Inkompatibilität wird an den Autoren die gegenwärtigen Lage der kulturellen Gesellschaft deutlich.

A.J. Weigoni treibt die Neugierde in Sachen Literatur, nicht  akademische Meriten

Der Literaturbetrieb gleicht einem Adler, der in die Lüfte aufsteigt, obzwar er gebrochene Füße hat, die ihm jedwede Landung verwehren. Heutzutage scheint Literatur der Inbegriff des Fragmentarismus, der unsere Zeit ansteckt, dadurch charakterisiert und die typisch fin-de-siècle-belastete Verwirrung und Fassungslosigkeit der Methoden, der existentiellen Werkzeuge zum Ausdruck bringt. Diese Autoren wagen, jeder auf seine Art und Weise, eine Berufung der Methode einzulegen, indem sie eine Berufung der Rhetorik heraufbeschwören. Die alten Fragen der Literatur bleiben erhalten, wie die nach dem Geschlechterverhältnis oder dem Rest Unerklärlichem, das sich der menschlichen Erkenntnis entzieht. Deshalb sollte sich die neue Literatur nicht frontal gegen die Religionen stellen. Aber sie muss die sogar bei Atheisten bislang unzureichend ausgebildete Anschauung stärken, daß Moral und Ethik keineswegs nur über religiöse Überzeugungen funktionsfähig werden. Es geht um eine Erweiterung des literarisches Feldes.

Die Kunst des Fragens und die Kunst des Antwortens

In den Gesprächen mit den Autoren: Karlheinz Barwasser / Holger Benkel / Patricia Brooks / Barbara Ester / Klas Ewert Everwyn / GRAF–X / Wolfgang Kammer / Bruno Kartheuser / Axel Kutsch / Jens Neumann / Ulrich Peters / André Ronca / Ioona Rauschan / Dieter Scherr / Robert Stauffer / Angelika Voigt / Dieter Walter / Eva Weissweiler wird ein Blick in die Arbeitszimmer der Schriftsteller der 1990er-Jahre geworfen. Man erfährt viel über ihre Arbeit an Lyrik, Prosa, Drama und über Arbeitstechniken im Studio, auf der Bühne oder im Internet. Und das aus erster Hand.

Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann.

Goethe

Die Verflechtungen von Poesie, Kunsttheorie, persönlicher Biographie und politischen Ereignissen, von Leben, Film und Literatur, von Querverweisen zwischen Literatur und Kunst und von Bezugslinien zwischen Vergangenheit, Gegenwart und schließlich sogar der Zukunft machen die Kollegengespräche zu einer komplexen Lektüre. Die Unmittelbarkeit und Dringlichkeit des Schreibens aber wiegen die Beschwernis der labyrinthischen Gedankenwege, die lesend nachvollzogen werden müssen, wieder auf. Die Literatur eröffnet eine Dimension, die für die Gesellschaft völlig unverzichtbar ist. Literatur ist nicht nur Dekor des Lebens, das neue Gesellschaftsmodell benötigt neue Literaturformen. Über Verfremdungen drückt Literatur die Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen der Menschen aus. In Zeiten tiefgreifender Veränderungen verschwimmen deshalb auch die Grenzen zwischen den so genannten Literaturproduzenten und dem so genannten Publikum.

 

 

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BriefKunst. Der andere Blick auf Korrespondenzen. Gesammelte Essays für Renate Stauf, von Carolin Bohn, Maria Frommhold und Christian Wiebe (Hg.) Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2021.

Weiterführend →

Um den Bücherberg nicht zu vergrössern waren die Kollegengespräche Buch als Print on demand erhältlich. Aus Recherchegründen hat der vordenker die Kollegengespräche ins Netz gestellt. Sie können hier abgerufen werden. Die Kulturnotizen (KUNO) setzen diese Reihe in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.