Kopfkino

 

Kohlestaub scheint über diesem Stadtteil zu liegen, die Paraffinlampen verdüstern mehr, als sie erhellen. Auf dem Weg zur Corova–Milchbar beobachtet Georg Halbwüchsige. Sie üben die Tritte und Handkantenschläge eines Kampfsports und stürmen johlend die Treppe ihres Hauses hinab. Auf der letzten Stufe nehmen sie den Anlauf, den es braucht, um auf die Aussenwand einzutreten. Ihre Faulheit und Grossspurigkeit ist mit Händen zu greifen, ihre Brutalität ist so selbstverliebt, dass sie von einem geschlagenen Gegner Fotos machen und den Akt seiner Demütigung herumzeigen als sei es ein Pornobildchen. In der Corova–Milchbar läuft stilgerecht das „Suicide Scherzo“ von Walter Carlos. Georg muss sich durch den vollen Laden drängeln und gerät mit einem Droog zusammen.

»Du bist ’n Five–F–Man: Find them, flirt them, fuck them, fool them, forget them«, gehört die sich leer anfühlende Sloganhaftigkeit zu Alex Ritual. Sein Lachen ist ein Fletschen. Tiere zeigen die Zähne, weil sie um Gnade bitten. Er ist kurz davor, handgreiflich zu werden. Gewaltexzesse treffen auf eine krude Authentizität. Georg und Alex tummeln sich kurzzeitig zwischen notorischer Punk–Provo–Attitüde und absurder Clownerie.

»Verschütt‘ die Milch ’nit«, kehlt Georg auf Rheinisch und fragt sich, ob der Typ ein Stück seiner eigenen Vergangenheit ist, das es mit Macht abzustossen gilt.

»Ehj, dat is Moloco–plus« moderiert Alex seinen eigenen Zusammenbruch und lächelt attraktiv aus seinem brennenden Nervenkostüm heraus. Georg hat keine Zeit, sich auf Nickligkeiten einzulassen, an einem reservierten Tisch wartet eine strahlende Tina. Das weibliche Ideal, dem die meisten Filmstars entsprechen, ist die grösstmögliche Annäherung an das Kindchenschema: grosse Augen, kleines Näschen, aufgeworfene Lippen, herzförmige Backenknochen. Sie spielen weniger Rollen, sie spielen auf dem Markt der Körper. Stars sind Kreaturen ihrer Zeit, und sie vergehen mit ihrer Zeit. Tina spielt im Privatleben nicht, sie ist.

»Hast du den Typen im weissen Anzug gesehen?«

»Salzingers rechte Hand. Ein Hund der bellt, und dazu auch beisst«, stellt Tina fest. Zieht Georg an sich und knabbert ein wenig an seiner Oberlippe.

»Wie war’s in Hollywoods Pappbergen?«, erkundigt er sich, nachdem sie sich ausgiebig begrüsst haben.

»Ist gut gelaufen. Hab‘ was für uns kaltgestellt«, weist sie mit einladender Geste auf den Kübel. Auf ihr Zeichen entkorkt der Ober, den Champagner, »Wie war es in den Aktenbergen des Stadtarchivs, auf eine Goldader gestossen?«

»Im Stadtarchiv müsste ’ne ABM–Kraft angestellt werden. Sind auf’m Stand von 1995, blickt keiner mehr durch. Kein Zufall, seit Information zu einem Rohstoff geworden sind … vergangene Zeiten sind für manche nur im Lichte sanfter Verklärung zu ertragen, dem alten Leland geht’s auch ganz schön dreckig…«

»Lebt der denn noch?«, ist Tina erstaunt, dass Georg einen Veteranen der Filmgeschichte ausgegraben hat.

»Wenn man das Leben nennen kann. Von ihm hab‘ ich den Tipp mit Salzinger…«, vollbringt er das Kunststück, die neuen Medien zugleich extrem zu nutzen und kritisch zu reflektieren. Seine furiosen Zusammentreffen von menschlichem Bewusstsein und dessen technologischen Erweiterungen rütteln an einer Erfahrungsdimension, die im Alltag unter der Prämisse des reibungslosen Kommunizierens meistens ausgeblendet wird. Technik ist seine Ansicht nach weder Spielzeug noch Sinnesprothese.

»Der Grossmogul hat dir eine Audienz gewährt?«, intoniert Tina mit ihrer geheimnisvollen Aura den feinen Widerspruch zwischen Sanftmut, trotzigem Widerstand und fragiler Verlorenheit.

»Hat zwar viel geredet, aber nichts erzählt.«

»Irgend etwas wird er gesagt haben… zwischen den Zeilen?«, versucht sie ihn auszuhorchen und giesst etwas Champagner nach.

»Er blufft. Salzinger behauptet, das Original zu besitzen, mein Instinkt sagt mir, dass er mit falsch spielt. Hab‘ jemanden kennen gelernt, der mir das Original vom „Herz der Finsternis“ zeigen will«, versucht er, sie über den Fakt von viel Lebenszeit vs. Erkenntnisgewinn, zu einer unüberlegten Äusserung zu reizen.

»Mach’s nicht so spannend«, mag sie das Schwanken und Schlendern und die Beständigkeit, die er in der suchenden Bewegung zeigt.

»Wenn du heute Abend Zeit hast, kannst du gerne mitkommen. Hab‘ da eine interessante Einladung zu einer privaten Vorführung.«

»Das würde mich bei ihm nicht wundern. Dein Informant hat also das Original?«

»Nein, aber er weiss, wer es hat. Es muss wohl eine steinreiche Schnepfe sein, die ausser taiwanesischen Sportwagen auch ’n Hang für Filmklassiker hat. Wer über ausreichend Kleingeld verfügt, kann eben Unikate sammeln«, gibt er sich im Triumph nur halbwegs gehässig.

»Vielleicht ist sie ja die letzte Idealistin?«

»Ich dachte die wären ausgestorben?«

»Man weiss es nicht so genau…«

»Waren wir eigentlich schon mal zusammen im Kino und haben Händchen gehalten?«, erkundigt sich Georg rhetorisch bei ihr.

 

 

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Die komplette Novelle findet sich in: Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermontage: Jesko Hagen

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