Der McGuffin, ein Nachruf auf den Kriminalroman

 

Vera Strange gehört zu dem Typ Frau, der zielstrebig um Haaresbreite an der so genannten Wirklichkeit vorbeilebt. Sie sympathisiert mehr mit dem, wie es sein könnte, als mit dem, was auf der realen Handlungsebene blossliegt. Die Künstlerin ist eine selbstbewusste und sich ihrer inszenatorischen Macht bewusste Frau, die Rollen anprobiert wie Kleider und sich diejenigen aussucht, die am besten zu ihr und ihrer künstlerischen Identität passen. Als Erbin der Pelztasse hat ihre Kunst mit dem Körper zu tun, der Parallelschrift des Lebens, ihrer Selbstwahrnehmung, die ihrer Wirkungsabsicht entspricht. Für Vera gibt es die Realität des Körpers, aus der das Kunstwerk entsteht und mit der es wahrgenommen wird, sie will im Zwiegespräch mit der äusseren Welt sich selbst über sich selbst und die äussere Welt über ihre innere Wahrheit aufklären.

»Wo war gleich das Band?!?«, murmelt sie vor sich hin. Getrieben von einem Produktions– und Lebensfuror sieht sie sich in ihrem Atelier um. Konzentriert sich. Manch einer stellt sich die Schaltuhr, um sich Morgens von aufdringlichen Radiomoderatoren die Träume madig machen zu lassen. Vera kann, da sie in einem Loft an der Lower–East–Side überlebt hat, kaum mehr ohne dieses prickelnde Fluidum weiterexistieren. Sie hat sich von ihrem einstigen Lover Jack Lucas ein Aufnahme mit Round–About–Midnight–Geräuschen anfertigen lassen.

„Wo auch sonst!«, geht es ihr durch den Kopf. Sie greift neben dem Rechner in den Stapel mit den CD–Rs. Hätte die Aufnahme überspielen wollen… fädelt den Senkel um den Tonkopf und drückt die Play–Taste.

Abendröte, mit Blut gemalt. Im Terror des Alltäglichen schien His Satanic Majesty höchstpersönlich unterwegs gewesen, in der von Jack tonal fixierten Mittsommernacht: Weichspülprogramme schwappten aus den TVs in die Gosse. Paare, die es immernochnicht aufgegeben hatten, das ewiggleiche rein/raus–Spiel zu simulieren. Eine Taube, die ihren gurrenden Kommentar zur Sachlage abgab, bis sie von einem Luftgewehrschützen von ihrem Nistplatz heruntergeholt wurde. Weitere Jerks auf Kamikaze: Massierte Einheiten von Cops, welche die Sirenen ihrer Streifenwagen aufheulen liessen, weil jemand aus der Alphabeth–Street in ein Wespennest gestossen hatte. Last but not least das Sahnehäubchen in dieser brausenden Kakophonie, der schweinische Saxophonist, der im gegenüber liegenden Loft Monks „Well, you need’nt“ stilvoll zersägte. Ohne Frage, diese Welt ist eine überfüllte Irrenanstalt, in der die Militärs Bleispritzen bereithalten, um Aggressionstriebe wach zu halten und rührige Betschwestern kulturelles Valium verabreichen. Dieser Ort ist offensichtlich die Schaltzentrale.

„Kein Geist in der Maschine. Was ich brauche, ist die Entwicklung meiner Wahrnehmungsfähigkeiten“, treibt sie sich zur Arbeit an. Auch wenn Vera schläft, was selten der Fall ist, meist kommt sie mit vier Zeitstunden aus, ist dies der geeignete Soundtrack, den sie aus ihrem Atelierfenster in den Hinterhof pumpt. Dort mischt er sich unter das kreissägenkreischende Höllengebreugel, das die dort in Garagen probenden Bands als ihren Beitrag zur Weltlage abgeben. Diesen Basic–Track garniert sie mit anderen Klangwellen. Zeitweise mischen sich asiatische Opern und haitianische Voodooklänge darunter. Wilde Sprachgemenge aus experimentellen Hörspielstudios stehen neben trivialen Weisheiten aus der Fernsehwerbung. Manchmal sogar eine Prise kulturelles Wort.

Die Reise wurde zu ihren Kunstprojekt, sie schuf in N.Y.C eine Art bewegliche Installation des Lebens, jeder Moment stellte ein eigener Tropfen Zeit dar, alle Zeit und Distanz wurden elastisch, und in der Erinnerung bleibt doch nichts haften, da ist nur ein Haufen Schnappschüsse, der kein ganzes Bild mehr ergibt. Künstler migrieren, ob real oder mental. Vera arbeitet damit, Fernes und Nahes zu verbinden, Fremdes ins eigene Erleben hineinzuholen, Eigenes im Fremden zu inszenieren. Sie kam zur Kunst, weil sie vor dem Leben floh. Nie hat sie sich auf die Bildzweifel eingelassen, die die bildnerische Moderne als erkenntniskritisches Projekt verrieten. Ihre Bilder stellen keine Zitate der ikonischen Moderne dar oder Anspielungen auf bestimmte Schulen oder Agenden, sondern streben trotzig nach Bewahrung ihrer eigenen Autonomie. Aufgehen in der Arbeit und Tod sind für sie eng miteinander verbunden. Das Poetische und das Mechanische gehen in vielen Arbeiten eine spielerische Verbindung ein, die auch gerade da, wo sie das Schöpferische der Kunst zu ironisieren scheinen, nie die Lust am Narrativen und an einer zärtlichen Zugewandtheit zu jeder Form von Entstehungsprozess verlieren. Sie blieb die Malerin, die dem Bild vertraut, die vom Bild nichts anderes erwartet, als dass es mit seinen sinnlichen Zeichen vom Betrachter langsam Besitz ergreift. Was keineswegs bedeutet hat, dass sie einfach blindlings weitergemalt, die Tradition gegen ihre Ächter verteidigt hätte.

In ihrem Atelier hat die Zeit ihre eigene Physik. Die Farbe Weiss ist für sie ewig zeitlos, ewig supermodern, ewig leicht, ewig unergründlich. Vera kann sich vor eine Leinwand hinstellen, die eben nicht nur aus einer grundierten Leinwand besteht, es ist die perfekte Projektionsfläche, sie kann sich darin verlieren oder einfach mit den Schultern zucken und zum nächsten Bild weitergehen. Während ihre frühen Arbeiten mit ihren de konstruktivistischen Anleihen von einer Hard–Edge–Ästhetik geprägt sind, zeigt sich in den jüngeren Projekten eine Tendenz zur Verflüssigung, indem sich die futuristischen Entwürfe als geronnene Hohlformen dynamischer Kraftfelder oder als Kommunikations– und Bewegungskanäle der Stadt erweisen. Das Thema der Verflüssigung des Raumes ist die grundlegende Entwicklungstendenz von Veras Arbeiten.

Veras Malerei ist die Übersetzung der visuellen und materiellen Wirklichkeit in ästhetische Normen. Sie ist verstrickt in das Zeichensystem moderner Kunst, verstrickt in die eigene kulturelle Bildung, verstrickt in die Interpretation visueller Bezüge. Der Verlust einer verbindlichen Wirklichkeit erweist sich für sie nicht als Zeichen für Verunsicherung, sondern als Potenzial. Ihre Bilder verlangen dem Betrachter einiges ab: Das Publikum soll nachdenken, und wenn es dazu keine Lust hat. Vera reicht es nicht, die Wirklichkeit abzubilden, sie will der Wahrheit nahe kommen. Die grosse Illusion aller modernen Kunst, ins Leben einzugreifen, wird von ihr als Abgesang beschworen.

Gelungene Ausstellungen verlassen die Betrachter mit dem beglückenden Gefühl, eine Einsicht gewonnen, einen Zusammenhang verstanden zu haben. Vera lebt in einer Zeit, in der man sich so oft neu erschaffen kann, wie man will. Die Anstrengungen, die unternommen werden, um das Profil einer individuellen Künstlerin zu schärfen und die Identität eines Werks zu definieren dekonstruieren diese Zielsetzung. Das Suggestive ihres Werks liegt in der Melange aus aufgelöster Faktur und mäandernden Farbformen, im Changieren zwischen Situation und Symbol, in der geheimnisvollen Verweigerung der Erzählung.

Fläche und Linie, Rasterstruktur, Malerei und Collage – bei Vera existiert alles gleichzeitig. Sie erhebt die hybride Formensprache das Brüchige, Uneinheitliche und Diskontinuierliche zum Gestaltungsprinzip und korrespondiert mit dem psychosozialen Profil des ungebundenen, flexiblen Menschen, dessen Lebensplanung mehr denn je dem Zufall unterworfen ist. Die Artistin interessiert sich für Zustände des Dazwischen, die Farb–Licht–Konzentrationen. Das einzige Thema ihrer Malerei ist jedoch: die Farbe. Als Leinwandküsserin geniesst sie es, im Zentrum dieser Kakophonie Farbe aufeinander zu schichten. Die Galerien sind voll Bildern mit schwarzen Streifen auf rotem Grund, die gern für Foyers angekauft werden. Ihres Erachtens ist diese Art der Malerei in einer Welt, die auf Effizienz und Arbeitsteiligkeit angelegt ist, nichts als ein opportunistischer Reflex. Wenn Vera historische Fotos auswählt, einscannt, Motive vergrössert und daraus Kompositionen entwickelt, will sie aufzeigen, wie unscharf das Bildgedächtnis ist. Malerei ist die einzige Form der Bildherstellung, die sich leiblich vollzieht. Für Vera ist das ein Bedürfnis, sie hat Spass daran und hält es für unzulässig, wenn man aus der Krise der Moderne auch eine generelle Krise der Malerei ableitet. Wenn man vom Ende der Malerei spricht, spielt das darauf an, dass sich der Fortschrittsgedanke in der Kunst allgemein überlebt hat. Die Natur, der alte Ort poetischer Erfahrung, ist für sie schon an den Stadtrand gerückt. In der Natur wachsen nicht die Blumen des Bösen, wie in Megalopolis.

 

 

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Die komplette Novelle findet sich in: Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermontage: Jesko Hagen

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