Erinnerung an eine umtriebige Schriftstellerin

Annemarie Schwarzenbach hat sich schon als Kind gegen diese Genderrollen aufgelehnt, indem sie sich wie ihre Brüder angefangen hat anzuziehen. Sich Fritz genannt hat. Und später dann, als sie in die Pubertät kam und als junge Frau dann, mit dieser Androgynität sehr gespielt.

Alexis Schwarzenbach

Erika Mann, Photo: Annemarie Schwarzenbach

Vor 114 Jahren wurde Annemarie Schwarzenbach in Zürich geboren. Sie wuchs in der Seegemeinde Horgen auf dem stattlichen Landgut Bocken auf. In Paris und Zürich studierte sie Geschichte. 1931 promovierte sie mit einer Arbeit zur Geschichte des Oberengadins im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Erste journalistische Veröffentlichungen sowie literarische Texte entstanden noch während ihrer Studienzeit. Kurz nach Abschluss ihres Studiums debütierte sie mit dem Roman Freunde um Bernhard. Im Jahr 1931 hielt sie sich öfter in Berlin auf und stand in engem Kontakt mit Klaus und Erika Mann in München.

Schwarzenbach führte nach 1933 teilweise das Leben einer Migrantin und reiste in verschiedene Länder, öfter zusammen mit Klaus Mann, dessen literarische Exilzeitschrift Die Sammlung sie finanziell unterstützte. 1933 begab sich Annemarie Schwarzenbach gemeinsam mit der Fotografin Marianne Breslauer auf eine erste journalistische Reise nach Spanien. Im gleichen Jahr fuhr sie nach Persien. Nach der Rückkehr in die Schweiz reiste sie 1934 nach Moskau, wo sie zusammen mit Klaus Mann am ersten Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller teilnahm.

Merkwürdig, wenn Sie ein Junge wären, dann müssten Sie doch als ungewöhn­lich hübsch gelten.

Thomas Mann

Annemarie Schwarzenbach: Selbstporträt mit ihrer zweiäugigen Rolleiflex Standard 621-Kamera (entstanden in den 1930er Jahren)

Die im Frühling 1933 erstmals erschienene Lyrische Novelle stand im Schatten von Hitlers kurz zuvor erfolgter Machtergreifung. Die Aufnahme und Verbreitung des Buches wurde dadurch stark erschwert. Aber schon damals rühmte die Kritik die Musikalität und moderne Sachlichkeit der Sprache. Noch stärker als in jener Zeit zieht der Text heute eine besondere Aufmerksamkeit auf sich: als eine frühe literarische Darstellung von lesbischer Liebe. Das Buch erzählt zwar von der unglücklichen Liebe eines Mannes zu einer Frau. Doch die Autorin bekannte nach der Veröffentlichung: Zum besseren Verständnis der Geschichte „hätte man eingestehen müssen“, dass der Held „kein Jüngling, sondern ein Mädchen“ sei.

1935 kehrte sie nach Persien zurück und heiratete dort – trotz ihrer lesbischen Orientierung – den ebenfalls homosexuellen französischen Diplomaten Claude-Achille Clarac. 1937 recherchierte sie in Moskau für ihr Buch über den Schweizer Expeditionsbergsteiger Lorenz Saladin, der im Jahr zuvor nach einer Besteigung des Khan Tengri in Kirgistan gestorben war. 1939 hielt sie sich längere Zeit für einen Drogenentzug in Kliniken auf. Während dieser Zeit schrieb sie ihr Buch Das glückliche Tal.

Fürchterliche Ungewissheit? Fürchterlich nur so lange, als wir ihr nicht ins Auge zu blicken vermögen.

Annemarie Schwarzenbach

Gemeinsam mit der Schweizer Schriftstellerin Ella Maillart reiste sie im Juni 1939 in einem Ford V8 91A Deluxe über Istanbul, Trabzon und Teheran über Land nach Afghanistan. Im September, zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, hielt sie sich in Kabul auf. Schwarzenbach war über mehrere Wochen krank, woraufhin sie Maillart verliess. Danach zog es sie in die USA, wo sie in New York erneut mit den Geschwistern Mann zusammentraf. Dort lernte sie auch die Schriftstellerin Carson McCullers kennen, die sich Hals über Kopf in Schwarzenbach verliebte. Sie erwiderte deren Gefühle nicht, blieb jedoch während ihrer Zeit in den USA mit den McCullers befreundet und schrieb mehrere wohlwollende Rezensionen zu McCullers Debütroman The Heart Is a Lonely Hunter.

Auch in den USA musste Schwarzenbach sich wegen ihrer Morphiumsucht, schwerer Depressionen und Suizidversuchen mehrfach in psychiatrische Behandlung begeben. Nach einem Besuch ihres Ehemannes in Tétouan im Juni 1942 kehrte Schwarzenbach wieder in die Schweiz zurück. Am 7. September 1942 stürzte sie im Engadin mit ihrem Fahrrad und zog sich eine schwere Kopfverletzung zu, an der sie nach einer Fehldiagnose und anschliessenden Fehlbehandlungen am 15. November starb.

Ich bin nicht genügsam, will jeden Tag das Einzige und Letzte

Annemarie Schwarzenbach

Nichts als Lob hat KUNO für die Biografie, die Alexis Schwarzenbach über seine Großtante, die Reiseschriftstellerin, bekennende Homosexuelle und kämpferische Antifaschistin Annemarie Schwarzenbach geschrieben hat. Er zeichnet mithilfe zum Teil unveröffentlichter, aus Familienbesitz stammender Dokumente und Fotos, sowie umfangreichen Archivmaterials (darunter der Nachlass der Familie Mann) das Leben seiner Großtante nach. Erstmals publizierte Texte und zahlreiche Bilder, die das Talent Schwarzenbachs als Fotojournalistin belegen, ermöglichen ein umfassendes Portrait der schillernden Schweizerin. Wie erkennen eine Nomadin, die zwischen den literarischen Genres pendelt, und ihr Textmaterial durch verschiedenste Landschaften und Städte reisend sammelt. Der Dialog zwischen Schwarzenbachs Texten und Fotografien eröffnet den Blick auf die Umbrüche und Konflikte der 1930er-Jahre. Zugleich erschliesst Schwarzenbach mit ihrem dokumentarischen Auge Themen von erstaunlicher Poesie und verblüffender Aktualität. In diesem Buch finden sich es neben zahlreichen Abbildungen auch eine Audio-CD mit Eine Frau zu sehen, gelesen von Bibiana Beglau.

 

 

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Auf der Schwelle des Fremden – Das Leben der Annemarie Schwarzenbach, eine Biographie von Alexis Schwarzenbach. Verlag: Collection Rolf Heyne, 2008

Weiterführend → KUNO gedachte ihrer zum 100. Geburtstag mit einem Ausschnitt aus dem Gedichtzyklus Kongo-Ufer.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Ab der kommenden Woche präsentiert KUNO die Lyrische Novelle von Annemarie Schwarzenbach.