Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben

 

Das Leben zerfetzt sich mir in 1000 Stücke,

schreibt Annemarie Schwarzenbach 1935 in einem Brief an Klaus Mann düstere Zeilen für eine 27-Jährige. Dabei scheint die begabte Schriftstellerin und Tochter aus reichem Schweizer Elternhaus vom Glück eigentlich begünstigt: gebildet, von außergewöhnlicher androgyner Schönheit und Melancholie sie verdreht Männern und Frauen gleichermaßen den Kopf und mit einer großen Leidenschaft für alles Fremde führt sie ein unangepasstes Leben.

Kurz nach Abschluss ihres Studiums debütierte Annemarie Schwarzenbach mit dem Roman Freunde um Bernhard. Im Jahr 1931 hielt sie sich öfter in Berlin auf und stand in engem Kontakt mit Klaus und Erika Mann in München. In diese Zeit fallen auch ihre ersten Erfahrungen mit Morphin. Schwarzenbachs Verhältnis zu ihrer Mutter war sehr gespannt, unter anderem aufgrund ihrer antifaschistischen Einstellung. Einige Mitglieder der Familie Schwarzenbach/Wille sympathisierten nach 1933 mit der „Schweizer Front“, die eine Annäherung der Schweiz an das nationalsozialistische Deutschland befürwortete, während sich in Annemarie Schwarzenbachs Freundeskreis zahlreiche jüdische und politische Emigranten aus Deutschland befanden.

So führte sie nach 1933 selbst teilweise das Leben einer Migrantin und reiste in verschiedene Länder, öfter zusammen mit Klaus Mann, dessen literarische Exilzeitschrift Die Sammlung sie finanziell unterstützte. 1933 begab sich Annemarie Schwarzenbach gemeinsam mit der Fotografin Marianne Breslauer auf eine erste journalistische Reise nach Spanien. Im gleichen Jahr fuhr sie nach Persien. Nach der Rückkehr in die Schweiz reiste sie 1934 nach Moskau, wo sie zusammen mit Klaus Mann am ersten Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller teilnahm.

Mit ihrem Auto fährt sie von der Schweiz nach Afghanistan, Indien, Irak und Iran, wo sie auch einige Zeit lebt; sie arbeitet in Belgisch-Kongo und den USA. Ihre Erlebnisse hält sie in faszinierenden Fotografien und poetischen Texten fest.

1935 kehrte sie nach Persien zurück und heiratete dort – trotz ihrer lesbischen Orientierung – den ebenfalls homosexuellen französischen Diplomaten Claude-Achille Clarac. 1937 recherchierte sie in Moskau für ihr Buch über den Schweizer Expeditionsbergsteiger Lorenz Saladin, der im Jahr zuvor nach einer Besteigung des Khan Tengri in Kirgistan gestorben war. 1939 hielt sie sich längere Zeit für einen Drogenentzug in Kliniken auf. Während dieser Zeit schrieb sie ihr Buch Das glückliche Tal.

Auch in den USA musste Schwarzenbach sich wegen ihrer Morphiumsucht, schwerer Depressionen und Suizidversuchen mehrfach in psychiatrische Behandlung begeben. Nach einem Besuch ihres Ehemannes in Tétouan im Juni 1942 kehrte Schwarzenbach wieder in die Schweiz zurück. Auch hier ereilen sie  Depressionen, immer wieder vermischt mit kreativen Schüben, ein Tanz auf einer schmalen Klinge, der wiederholt in Entzugskliniken und in die Psychiatrie führt. Man vermutet beginnende Schizophrenie und vernachlässigt die Suche nach den Gründen: Die komplizierte Mutter-Tochter-Beziehung, ihre Homosexualität und die Stigmatisierung durch die Gesellschaft, die politische Lage in Europa, der innere Rückzug als Reaktion auf das äußere Chaos. Klaus Mann antwortet damals:

Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben.

 

 

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Auf der Schwelle des Fremden – Das Leben der Annemarie Schwarzenbach, eine Biographie von Alexis Schwarzenbach. Verlag: Collection Rolf Heyne, 2008

Der Dialog zwischen Schwarzenbachs Texten und Fotografien eröffnet den Blick auf die Umbrüche und Konflikte der 1930er-Jahre. Zugleich erschliesst Alexis Schwarzenbach mit ihrem dokumentarischen Auge Themen von erstaunlicher Poesie und verblüffender Aktualität. In diesem Buch finden sich es neben zahlreichen Abbildungen auch eine Audio-CD mit Eine Frau zu sehen, gelesen von Bibiana Beglau.

Weiterführend → KUNO gedachte ihrer zum 100. Geburtstag mit einem Ausschnitt aus dem Gedichtzyklus Kongo-Ufer.

Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.