Bahnhof

 

ich bin als kind mit meinen eltern am ende eines urlaubs auf dem hauptbahnhof stralsund, wo ständig veränderte zeiten und bahnsteige für die abfahrt der züge durchgesagt werden, so daß die reisenden aufgeregt hin und her laufen. endlich finden wir einen zug, der nach leipzig über magdeburg fährt. doch plötzlich fehlen unsere koffer, die wir in der gepäckaufbewahrung vergessen haben. meine eltern schicken mich los, die koffer zu holen. im nächsten moment befinde ich mich auf einem anderen bahnhof, der dem leipziger hauptbahnhof gleicht, und fahre mit einem paternoster, wie ihn die universität leipzig hat, in die zehnte etage, wo es aber keine gepäckaufbewahrung gibt. statt dessen steht dort der »pergamon-altar«, vor dem gerade eine führung beginnt. ich möchte zwar verweilen, muß jedoch zurückfahren, weil ich meinen auftrag erfüllen und den zug rechtzeitig erreichen will. als ich eine rolltreppe betrete, durchquert diese mehrere etagen mit großbüros, deren mitarbeiter erstaunt aufschauen oder kurz aufschreien, während ich über ihre schreibtische hinweg fahre.

zuletzt fährt die rolltreppe direkt zum strand der ostsee und bremst abrupt ab, so daß ich ins ufernahe wasser rutsche, auf einen gestrandeten wal zu, der in einem blutrötlichen licht liegt und mit den flossen schlägt, während ein kindlicher junge, der einen feuerrot glänzenden eisenpanzer trägt, mit wildentschlossenem blick und offenbar völlig unbekümmert auf dem atemloch reitet, bis das tier verendet. ich sage vor mich hin: da brat mir einen fisch, worauf der wal unter einem feuerzeichen am himmel aufplatzt wie ein abstürzendes flugzeug, und leichen von menschen wie maden aus seinem rumpf hervorquellen. der junge, der früh genug vom wal abspringen konnte, trägt nun einen koffer in der hand, in dem sich meine bücher befinden, und reicht ihn mir. im nächsten moment bin ich wieder auf dem hauptbahnhof stralsund. meine eltern nehmen den koffer entgegen, jener mit der kleidung aber fehlt weiter. mein vater läuft erregt gestikulierend am bahnsteig entlang und klagt laut darüber, daß ausgerechnet der kleiderkoffer verloren ist.

 

 

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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2022

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015