Popkulturelle Blaupause

 

Der Dauerbrenner des tropisch aufgeheizten Sommers: eine Hypercalypseleitmelodie verspricht in naher Zukunft eine ferne Sehnsucht zu realisieren. Aufreizend gutgelaunte Moderatoren versuchen die Zwischenzeit zu überbrücken. Nach dem Experiment der globalen Visualisierung hat das Digital–Audio–Broadcasting mit einer Neugestaltung des Programms den Spitzenplatz erobert. Pop ist allgegenwärtiger Rohstoff, der über Webradios, Mobiltelefone und Unterleibsfernsehen in die Lebenswelt strömt und wie die Atemluft von selbst in alle Kanäle eindringt, eine Kulturleistung tritt zurück in den Kreislauf der Natur. Die Informationsgesellschaft befindet sich in einem Zustand aufgeklärter Konfusion. Kleinigkeiten irritieren den Zuhörer: Das bellende Sensationspathos der Nachrichtensprecher ähnelt dem trompetenden Ton der Sondermeldungen des grossdeutschen Rundfunks.

Neues zur Lage der Detonation. Die Meldungen im Einzelnen: Hintergründige Berichte mit Sprengsätzen. Zum Abschluss das Wetter. Für das leibliche Wohl gibt es Probleme. Seitdem sich die Ozonschicht fast verflüchtigt hat, ist die Stadt im Sommer ein Glutofen. Hitze und Erotik sind ein untrennbares Paar. Nachts möchte man am liebsten die eigene Haut abstreifen, um sich frischer zu fühlen. Glücklich können sich nur diejenigen schätzen, die frühzeitig in eine Klimaanlage investiert haben. Der User wischt sich mit dem Handrücken den Schweiss von der Stirn, hört nicht zu, braucht den Muzak lediglich, um die Stille zu übertönen. Die Welt implodiert in slow–E–motion, der unaufhörlichen Temposteigerung wird die konzentrierte Kraft des Augenblicks entgegengesetzt.

Information at your fingertips. Der User klappert in altmodischer Manier im Zehn–Finger–System in einem monotonen Groove auf einer Tastatur herum. Versucht zum wiederholten Mal den krächzenden Warnton zu ignorieren.

»Save data now… Save data now… Save data now…«, morst der Rechenknecht Macintalk in einer monotonen Endlosschleife. Born–to–be–wired ist er derzeit nicht sehr gesprächig, weil das Wortfeld lakonik vom Programmierer aktiviert worden ist. Kaum etwas kann einem mehr auf die Nerven gehen, als Kommunikationsmaschinen, die unablässig Befehlsfolgen akustisch wiederholen; eine Steigerung wären wahrscheinlich nur die Autoren, die für das Schreiben eben dieser Programme zuständig waren.

»Hab‘ ich. Gib‘ mir die letzte Befehlsfolge!«, gibt sich der User gehetzt, so als würde die Geistmaschine ihm zuhören, gar verstehen, womöglich auf ihn warten. Technik, so scheint es, dient nicht mehr, sie beherrscht sie. Wer sich in diesen Zeiten freiwillig den Computerbefehlen unterwirft, bekommt einen emotionalen backflow, der ihm im wahren Leben verwehrt bleibt. Die hypermodernen Menschen haben intensive emotionale Beziehungen zu ihren Maschinen aufgenommen. Noch sind diese Verbindungen einseitig. Aber Dinge leben, weil die Menschen sie beteiligen. Und irgendwann tragen sie ein Echtheitszertifikat.

 

 

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Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermonatge: Jesko Hagen

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KUNO übernimmt Artikel von Jo Weiß aus Kultura-extra, von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Christine Kappe aus der vom Netz gegangenen fixpoetry. Betty Davis sieht in Cyberspasz eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt in der real virtuality eine hybride Prosa. Enrik Lauer deutet diese Novellen als Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.