Zwischen Linz am Rhein und dem dusseligen Dorf daheim

Linz Unter, von Peter Meilchen

Die Menschen im Rheinland sind unverbesserlich, sie machen immer wieder die gleichen Fehler und besitzen nicht die saturierte Möglichkeit, das Leben mit Geld und Kultur zu verfeinern. Gerade das wäre von Nöten; erwiesenermassen hat bisher kein Staat länger gelebt, als die Dokumente seiner Kultur. Alles geschieht hier in demonstrativer Direktheit und Kunstlosigkeit, nichts könnte von der grössten Kunstanstrengung auch nur eingeholt werden.

Kultur ist das, was den inneren Horizont aufbricht. Auch hier arrangiert man sich mit der Wirklichkeit, um es mit ihr aushalten zu können. An dieser Front der Frustrierten treffen sich die Modernitätsverlierer, die mit dem Hundeblick; Menschen, für die das Verlieren schon zur zweiten Natur geworden ist. Menschen, die täglich die Sagbarkeit des Unsäglichen mit dem rheinischen Dialektrick praktizieren, demzufolge der These: Von nix kütt nix die Antithese: M’r moss och jönne könne folgt. Für jede neue These lassen sich selbstverständlich Belege finden, man muss nur lange und möglichst einseitig suchen, je nach Tagesform variiert deshalb die Synthese, meist einigt man sich auf den kategorische Komparativ: Et hätt noh emmer joot jejange, wobei die Wahrheit von dieser Population längst gegen Klarheit getauscht worden ist. Diese Sprache erscheint transitiv: sie spricht die Dinge.

Verlorene eines Scharnierjahrzehnts. Tagtäglich versuchen die Rheinländer in demütiger Ergriffenheit ein Ebenbild der Existenz zu werden und an grosse Zeiten anzuknüpfen. Hier ist alles Blödsinn, alles wahrscheinlich, alle auf der Suche, weil keine Legenden nachprüfbar sind. Das Rheinland hat fast schon eine nervende Gelassenheit, es ist eine selbstbewusste, auf sich bezogene Region, die mit sich weitgehend im Reinen ist, ein magisches Traumland für all jene, die ein unbestimmt Anderes suchen und dabei in einer ausgewogenen Mischung aus Aufgeschlossenheit und Dünkel auf eine befestigte Wirklichkeit nicht verzichten wollen. Selbstverständlich ist das Leben auch hier eine sexuell übertragbare Krankheit, aber die Kunst, um des Lebens willen zu leben, kann man nur hier unter berufsmässigen Verbalpöblern lernen, die einen Chor in der ersten Person–Plural bilden und in Degressionen absolut kenntnisfrei daherschwallen:

»Wann, wenn nicht jetzt! Wer, wenn nicht wir?«, reden die Rheinländer in tragischer Ergriffenheit über Dinge, von denen sie nichts verstehen. Sie benutzen ihre Sprache nicht, um etwas mitzuteilen, sondern um etwas zu erzählen, haben damit das Leben auf gnadenlose Art begriffen, im Griff haben sie es nicht. Sie reden über grosse Chancen, die sie hätten haben sollen. Reden über etwas, was sie nicht ausdrücken können; und genau das ist ihre Poesie. Ihre Aufrichtigkeit liegt nicht in den Worten, sondern in den Wendungen ihrer Reden, in der Art ihres Sprechens, in ihrem Ton. Im Rheinland kennt jeder jeden und ist ständig damit beschäftigt, es sich mit niemandem zu verscherzen. Sie haben voll den Durchblick, jedoch längst den Sinn für die Geläufigkeit der Zusammenhänge verloren. Wer sich selbst in den Blick nimmt, weiss nicht, wie er von anderen wahrgenommen wird. Diese schlichte Einsicht ist eine Quelle steter Unruhe und gilt sowohl für den einzelnen Menschen wie auch für die ganze Region.

Unentwegter Aufbruch. Stetiges Verharren. Die Bewohner dieser Region sind geborene Menschendarsteller. Sie sind skurril. Mit einer gewissen Verbohrtheit verfolgen sie ihre eigenen Wege, die so genannte Realität lassen sie dabei aussen vor, sie erschaffen Welten allein nach ihren Gesetzen. Mancher findet das höchst verschroben und abseitig, andere stehen fasziniert vor so viel Eigenwilligkeit, man könnte auch Zartstörrigkeit sagen. Im Rheinland lebt man eine Mischung aus Sehnsucht, Ironie, doppelbödigem Grössenwahn und Witz. Ihr vornehmstes skill ist die Fähigkeit, den eigenen Körper zur Projektionsfläche für Trends zu machen.

Auch wenn sich der Zungenschlag zwischen Stadt, Land und Fluss verändert, im Rheinland relativiert sich Vieles einfacher als anderswo. Wer eine Verteilung nach dem Leistungsprinzip für gerecht hält, sieht Ungleichheiten hier nicht als ungerecht, sondern als selbst verschuldet an und tendiert dazu, die eigene, bessere Lebenslage als verdient zu rechtfertigen. Die insgeheime Hoffnung, dass Not selbst verschuldet sein könnte, verdrängt die Angst, dass ihnen irgendwann jemand auf ihre Schulter klopft, alle Zeugnisse, Sparbücher und ihren Führerschein zurückfordert und sie an den Fährmann verweist.

Das Rheinland ist weniger ein geografischer Ort als ein mentaler Zustand; es wird bevölkert von Einwohnern, die sich für schlau halten, aber eines Besseren belehrt werden. Dieser Landstrich ist ein eigenständiger Kosmos. In einer Mischung aus Ironie und Schönheit, Selbstmitleid, Arroganz und Melancholie übt man in weitläufiger Weltläufigkeit Toleranz und gönnt der Schrulligkeit ihr Lebensrecht, hier besitzen die Gegensätze zwischen dem Bürgertum und den Herrschenden eine diffizile Komponente: Von 1795 bis 1815 gehörte das Rheinland zu Frankreich. So kamen die Rheinländer in den Genuss eines Rechtssystems, das den Bürgern mehr Freiheit gewährte und sie an der Kommunalverwaltung beteiligte. Das Winterbrauchtum parodiert erkennbar die französische Revolution, die Karnevalskappe ist aus der Jakobinermütze entstanden, der Elfer–Rat ist die Verhohnepipelung des revolutionären Wohlfahrtsausschusses, die Sitzung ist der Konvent und deshalb werden auch heutigentags noch die Rathäuser gestürmt. Nach der Niederlage Napoleons fiel die Region an Preussen. Der Versuch das preussische Recht einzuführen, führte zu Konflikten zwischen der Berliner Zentralregierung und den Rheinländern. Die vom protestantischen Preussen im katholischen Rheinland eingeführte konfessionelle Mischehe als empfand man als Bedrohung des eigenen Glaubens.

Die Rheinländer warten, bis es zu spät ist, dann ist es für sie noch früh genug. Ihr Leben ist voller Abschweifungen und nicht systematisierbar. Menschen lassen sich nicht nach Idealvorstellungen formen. Die Haltung, sich hier mit dem Unabänderlichen abzufinden, gehört zur katholisch–bäuerlichen Mentalität. Den fatalistischen Umgang mit der Apokalypse nennt man Humor. Die Geschichte ironisiert meist die Ironie, die Neigung zur Selbstironie ist hier besonders ausgeprägt. Kritische Äusserungen an der Regierung in Berlin wurden von dieser immer wieder mit Haftstrafen und Verboten geahndet. Provinz war nie eine Frage des Landstrichs, sondern immer schon eine des Kopfes. Von hier aus gesehen überrascht es, dass dieses Dorf im Vormärz mit dem Rechtsanwalt Hugo Wesendonk einen Abgeordneten in das erste deutsche Parlament entsandte, der im politischen Spektrum weit links einzuordnen war. 1848 ist ein Stück versäumter Realpolitik und lässt sich nur noch als ein Gewebe aus Deutungsmustern knüpfen, um zu fassen, was schon im tollen Jahr selbst kaum fassbar schien. Die Abgeordneten der Paulskirche stellten die Elite des Bürgertums: Staatsanwälte, Richter und Rechtsanwälte, Universitätsprofessoren, Vertreter wirtschaftlicher Berufe, wenige Handwerker, ein einziger Bauer und kein einziger Arbeiter; an die Präsenz von Frauen dachte niemand. Die Verfassungsdiskussion spiegelte einseitig die Interessen einer kleinen bürgerlichen Schicht, verlor die breite Zustimmung und die Begeisterung, die sie dringend gebraucht hätte; Demokratie lebt auch heutigentags von Transparenz und sichtbarer Verantwortung.

Wortspielmanszug. Zugleich war der Politiker Wesendonk Vorsitzender eines Karnevalsvereins. Revolutionen scheitern im Rheinland heiter, gerade der Karneval zeigte in den Augen der preussischen Besatzer eine oppositionelle Tendenz. Leve un leve lasse, die rheinische Mentalität ist es, der Frohsinn, die Toleranz und die Menschenfreundlichkeit, welche die unheimlig heimlige Region liebenswert machten. Der „Allgemeine Verein der Karnevalsfreunde “ wurde zeitweilig verboten. Die Narren aus dem Dorf waren zum Äussersten gezwungen, an den Rosenmontagszügen in der Domstadt teilzunehmen. Bei den preussischen Behörden war dieses Dorf in einer Dialektik der Verwahrlosung als „Schandnest “ verschrien und galt nach einem Spitzelbericht als „Hauptherd der Anarchie und Unordnung für die Rheinprovinz“, ein dumpf dahinvegetierender Landstrich. Seither gibt es ein Gemurmel über die Fragwürdigkeit der Bezeichnungen und Versuche der Bezeichneten, hinter ihren Zeichen hervorzutreten. Das Rheinland besitzt keine entwickelte Kultur der öffentlichen Auseinandersetzung. Die Debatte kennt nur eine Temperatur, nämlich die des Skandals, und das Niveau ihrer Repräsentanz ist in manchen Medien erbärmlich.

Die Inhaltslosigkeit des Lebens und die Tragikomödie, die daraus folgt, ist im Rheinland mit einer stets beschwipsten Melancholie grundiert. Es passiert seit 1848 genau Nichts und das ist es, was das Rheinland so anziehend macht: sein Ereignisnihilismus, seine absolute Geschehensneutralität.

Magie des Zufalls. Wenn hier etwas schnell passiert, dann allenfalls aus Versehen. An die Zukunft wollen die Rheinländer nicht denken, die Gegenwart ihnen schon kompliziert genug, ihre kollektive Erinnerung leidet unter Gedächtnisschwund. Im protestantischen Teil des Rheinlands waren es meist bildende Künstler, welche die Entwicklung in entscheidendem Masse mit vorangetrieben haben. Künstlerischer Weltläufigkeit trifft in diesem Dorf auf provinziellen Bratwurstmief, Weltgeist und Idylle können sich hier paaren. Nirgendwo sonst wird so hingebungsvoll den Klischees gehuldigt.

Der Weg von einem Fischerdorf am Rhein über eine kleine Residenzstadt zur Hochburg des Provinzialismus, ist ohne den Einfluss der Kunstakademie, der Malerschule und des Vereins Malkasten nicht denkbar. Freie Wahlen, freie Rede, freie Kunst, der liberale Geist der Revolution, der im Vormärz aus Frankreich herüberwehte, erfasste auch dieses Dorf und die Künstler. In der 1819 gegründeten Akademie, die unter Friedrich Wilhelm von Schadow einen guten Ruf genoss, gab es mehr Maler, Kupferstecher und Bildhauer als Anstreicher. 300 Künstler lebten im Dorf und man war stolz auf sie. Die Artisten galten als lebenslustig, trinkfreudig und aus Sicht der preussischen Obrigkeit als politisch suspekt. Zum Deutschen Einheitsfest am 6. August 1848 hatte der Maler und Akademieprofessor Carl Sohn eine vier Meter hohe Germania–Statue aus Gips geschaffen. Auf der längsten Ameisenstrasse der Stadt aufgestellt, war sie das Ziel feierlicher Fackelzüge. Zu ihren Füssen reifte die Idee zum Künstlerverein, die dann in der Altstadtkneipe Füchschen konkretisiert und fünf Tage später von 112 Gründern schriftlich besiegelt wurde. Die Revolution endete blutig, auch für die Künstler. Die gescheiterten Revolutionäre wandten sich wieder der Kunst zu und dem geselligen Vereinsleben des Künstlervereins Malkasten in wechselnden Lokalen. Mit Hilfe einer findigen Idee gelang es 1860, das Jacobi–Haus, Treffpunkt vieler Geistesgrössen, zu erwerben. Viele Werke waren nach einem Aufruf von Künstlern für eine Lotterie eingetroffen, mit deren Erlös das Anwesen gekauft wurde. Im angegliederten Park wurden rauschende Künstlerfeste gefeiert.

Es blieb nicht nur beim Feiern. Als sich 1898 ein katastrophaler Rückgang der wirtschaftlichen Verhältnisse abzeichnete, beschloss eine Initiative von Künstlern und Industriellen unter der Leitung des späteren Kunstakademie–Direktors Fritz Roeber auf der einen und des Kommerzienrates Heinrich Lueg auf der anderen Seite die Durchführung einer Ausstellung, deren Kostenvoranschlag bei immerhin 4 Millionen Gold–Mark lag. Ein Garantiefonds von 3 Millionen Gold–Mark wurde binnen weniger Wochen von den Bürgern des Fischerdorfes, zum Teil in kleinsten Beträgen, aufgebracht. Das Ergebnis waren Millionen von Besuchern und ein Überschuss von 1,4 Millionen Gold–Mark: Die Messestadt war geboren. Als Dank wurde den Künstlern das Gebäude des Kunstpalastes überlassen. Darauf könnte man eigentlich stolz sein; doch: Künstler werden hier inzwischen genauso verachtet wie anderswo auch.

Die Kulturbürokratie packt heutigentags ihre Ratlosigkeit in leere Formeln wie: „Du sollst nicht immer Neues denken, sondern Altes neu.“ und verschleiert damit nur unzulänglich, dass diese Kulturtradition aus der Mode gekommen ist. Das Interessante an Kunst ist, dass es sich um ein offenes Feld handelt. Im Gegensatz zu anderen Bereichen ist die Definition einer künstlerischen Praxis nicht festgelegt. Die Kunst wird letztlich nur dann für wert befunden, wenn sie die herrschende Ideologie bedient. Und die ist nun einmal eine des Geldes.

 

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Anmerkung der Redaktion: Wir entnehmen den Text dem Katalog „Rheinschiene, 5 Jahre Kunstverein Linz am Rhein“. Die Ausstellung war im Kunstverein Linz zu sehen. Das Alte Molti ist inzwischen abgerissen worden.

In 2020 konnte der Kunstverein Linz sein zehnjähriges Jubiläum feiern. Aber auch bereits viele Jahre und Jahrzehnte davor haben in Linz Künstlerinnen und Künstler gelebt und gearbeitet. Maler, Bildhauer und Grafiker haben Kunstwerke geschaffen, die bis heute in öffentlichen und privaten Sammlungen in Linz, aber auch weit darüber hinaus, Zeugnis für die Kreativität dieser Stadt und des Rheinlandes abgeben. Die Ausstellung wurde verschoben, die Arbeiten der Künstler können in einem feinen Katalog besichtigt werden. Lesenswert sind darin vor allem die Exkursionen von Andrea Rönz, die diesem Katalog eine historische Weite geben, die man sonst in solchen Dokumentation selten findet.

In der später stattfindenden Ausstellung des Jubiläumsjahres präsentiert der Kunstverein Arbeiten von Otto Cornelius (Maler), Hans-Günter Göbel (Maler), Heinrich Gogarten (Maler), Bernhard Hofer (Maler und Grafiker), Joseph von Keller (Kupferstecher), Norbert Kersting (Maler), Johann Martin Niederée (Maler, feiert 2020 seinen 190. Geburtstag), Waltraud Markmann-Kawinski (Malerin und Grafikerin), Peter Meilchen (Maler, Fotograf), Edith Oellers-Teuber (Malerin) und Günther Oellers (Bildhauer).

Weiterführend →

Lesen Sie auch den Nachruf über Peter Meilchens Lebenswerk, den Essay 50 Jahre Krumscheid / Meilchen über die Retrospektive im Kunstverein Linz und den Essay zum Buch / Katalog-Projekt 630. Der Reihe UnderCover folgte der ganzjährige Ausstellungszyklus Rheintorprojekt, kuratiert von Klaus Krumscheid und A.J. Weigoni.