REISE

 

ich besteige mit einer freundin auf einer wendeltreppe einen turm. plötzlich verschwinden die turmmauern und wir hängen außen an einem schornstein, der unendlich weit in die nacht hineinragt. während wir weiter hinauf steigen, erklärt mir die freundin die architektur und bauweise des schornsteins sowie die sternbilder, die wir am himmel über uns sehen. ich klage bald über den schwierigen aufstieg. sie aber will nicht umkehren. und erst mein argument, wir würden ja nicht einmal das ziel sehen, überzeugt sie. wir steigen wieder hinab, ich voran, denn ich bin unter ihr. unvermittelt hängt sie mir von hinten ein schild um, worauf steht: »hiermit bekenne ich, daß ich zu überhaupt nichts tauge und im zweifelsfall auf die architektin zu hören habe.« inzwischen sind wir unten angekommen. sie gibt mir ihre autoschlüssel und ich muß fahren. sie setzt sich mit demonstrativ gleichgültigem gesicht neben mich, wie wenn sie sagen wollte: jetzt ist mir alles egal. meinetwegen fahr zur hölle. doch das autofahren gelingt mir überraschend gut.

wir gleiten nachts über beleuchtete straßen und suchen ein restaurant. es ist der vorabend des ersten mai, also walpurgisnacht. vor einigen lokalen stehen menschen und halten geldscheine in die luft. wer für wert befunden wird, darf eintreten. wir fahren daran vorbei und steigen erst vor einem hotel aus. an der rezeption erfahren wir, daß wir uns auf einem schiff befinden und nicht nur essen, sondern sogar mitfahren können. das ablegen stehe unmittelbar bevor. ich zögere, die freundin aber entscheidet, daß wir bleiben.

sie bezahlt, und ich fahre das auto in die schiffsgarage. wir werden zu einem tisch geführt und bekommen sofort krabbensalat serviert, den wir eher widerwillig essen, während draußen hell erleuchtet die elbauen vorüberfahren. im fernseher neben der bar wird der beginn des ersten weltkriegs gemeldet. der restaurantchef läuft aufgeregt umher und sagt jedem gast, dem er begegnet, er könne nichts dafür. einige der passagiere tragen nun uniformen und kriegsausrüstungen, die verteilt werden. ich weigere mich, so etwas anzuziehen, und beginne statt dessen mein kriegstagebuch. die freundin ist momentan verschwunden. ein offizier erklärt mir, ich hätte keine sonderrechte und sei keineswegs vom krieg befreit, fordert eine patriotische geste von mir und droht mir, mich dem militärgericht zu melden, kümmert sich dann jedoch nicht weiter um mich. die freundin kommt zurück und geleitet mich in die laderäume, wo wir uns hinter containern verstecken, wobei sie ihre schulter gegen meine lehnt und ich sie umarme. so fahren wir ins ungewisse.

 

 

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Traumnotate von Holger Benkel, KUNO, 2021

Radierung von Francisco de Goya

Die Frage nach der besonderen Kompetenz der Dichter für die Sprache und die Botschaft der Träume wurde durch Siegmund Freud fundamental neu gestellt. Im 21. Jahrhundert ist die Akzeptanz des Träumens und des Tagträumens weitaus größer als noch vor hundert Jahren. Träumen wird nicht mehr nur den Schamanen oder Dichter-Sehern, als bedeutsam zugemessen, sondern praktisch jedermann. Gleichwohl wird den Dichtern noch immer eine ‚eigene‘ Kompetenz auf dem Gebiet des Traums zugesprochen – Freud sah sie sogar als seine Gewährsmänner an, mit Modellanalysen versuchte er diese Kompetenz zu bestätigen. Die Traumnotate von Holger Benkel sind von übernächtigter, schillernd scharfkantiger Komplexität.

Weiterführend

In einem Kollegengespräch ergründeln Holger Benkel und A.J. Weigoni das Wesen der Poesie – und ihr allmähliches Verschwinden. Das erste Kollegengespräch zwischen Holger Benkel und Weigoni finden Sie hier.

Gedanken, die um Ecken biegen, Aphorismen von Holger Benkel, Edition Das Labor, Mülheim 2013

Essays von Holger Benkel, Edition Das Labor 2014 – Einen Hinweis auf die in der Edition Das Labor erschienen Essays finden Sie hier. Auf KUNO porträtierte Holger Benkel die Brüder Grimm, Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, Uwe Albert, André Schinkel, Birgitt Lieberwirth und Sabine Kunz.

Seelenland, Gedichte von Holger Benkel , Edition Das Labor 2015