Reale Virtualität

Der moderne Flaneur sitzt vor dem Bildschirm. Ihn schlägt nicht weniger als die Welt in ihren Bann. Bilder und Wörter halten ihn gefangen… Wie Goethes dichterisches Ich schlendert der Flaneur im Internet ’so für sich hin‘ und lässt die Gedanken, die an diesem oder jenem Gegenstand hängenbleiben, schweifen; vor ihm eröffnet sich eine Flut an Verknüpfungen, die in Wellen wieder über ihm zusammenschlagen.

Alain Claude Sulzer

Mit den Novellen Cyberspasz, a real virtuality setzt A.J. Weigoni die im Band Zombies begonnenen Erforschungen der Trivialmythen fort. Definierte dieser Romancier mit den Vignetten die Literaturgattung Novelle neu und analysierte zugleich den Somnambulismus der Welt, so oszillieren diese Novellen zwischen dem mokanten Blick einer zuweilen herzlich boshaften Zeitgenossenschaft und der Ekstase einer ins Innere der Erscheinungen zielenden Sehnsucht, zwischen den Wonnen der Gewöhnlichkeit und ihrer argwöhnischen Begutachtung. Die „unerhörte Begebenheit“ ist nicht in jeder dieser Novellen felsenfest verankert, Weigonis Fingerspitzengefühl ist es, das Unerhörte nahtlos in die Geschichte einzukitten.

Steht das Kürzel WWW nicht längst auch für World Wide War?

Dematerialisierung und sinnliche Erfahrung sind keine Gegensätze mehr. Die Dystopie ist somit erschreckend nah an die Realität herangerückt. Der Firnis unserer Zivilisation ist hauchdünn in terrorisierten Großstädten vegetieren verrohte Menschen. Wir fressen einander nicht, postulierte Georg Christoph Lichtenberg, wir schlachten uns bloß. In »Der große Wurf« liegt jenseits der Kompromisse und jenseits des Spiels von Ich–Entwürfen und den Problemen damit nur die Dystopie. Während für das 20. Jahrhundert der Abschied von Utopien konstatiert wurde, gilt für das 21. Jahrhundert das gleiche für Dystopien. Eine Kontrollgesellschaft braucht keine räumlichen Arrangements. Das Subjekt mutiert zu einem Superpanoptikum. Die ersehnte Zuflucht existiert nur zum Schein; sie ist immer schon bedroht. Im 21. Jahrhundert haben wir es einerseits mit der Emanzipierung der Maschinen zu tun und andererseits mit der Neudefinition des Menschen, spätestens wenn die Maschinen nicht nur schneller und ausdauernder und intelligenter sind, sondern auch so etwas wie einen eigenen Willen und eine kybernetische Seele aufweisen können, kurzum: die Schönheit des Irrationalen begreifen.

Prekarier aller Länder – verkabelt Euch!

Eine neue Generation von Searchbots steht an, intelligente Agenten, die Verhaltensmuster in den Aktionen der Benutzer beobachten und auswerten; sie programmieren sich selbst. Je häufiger der Anwender einen lernfähigen Bot benutzt, desto besser kann der digitale Diener auf die Gewohnheiten und Wünsche seines Herrn eingehen. Dem Leser wird eine ganze Bandbreite der Möglichkeiten geboten, die naturgemäß zahlreiche Gelegenheiten zur Interaktion zwischen Mensch und Maschine bereitstellt. Das „digitale Panoptikum“ kennt nicht nur unsere äußeren Lebensumstände, sondern kann direkt in unsere Seele blicken. Der Emanzipationsgedanke für die Maschine ist umso aktueller, als eine Position um den Hirnforscher Wolf Singer erahnen läßt, wie weit in dessen Vorstellungen der Mensch vornehmlich nach mechanischen Kriterien funktioniert und demzufolge als willensunfreie Maschine konditioniert ist. Die programmierte Maschine kann in einer solchen Sicht durchaus an einen programmierten Menschen erinnen. Das Netz ist sowohl Emanzipationsmedium als auch Herrschaftsmedium.

Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich als harmlos.

Robert Jungk

Cyberspasz, a real virtuality stellt die Frage nach einer Technik, die sich nicht mehr zwischen den Menschen und die Welt stellt, sondern zu einer in beide Richtungen durchlässigen Membran geworden ist. Weigoni stellt existenzielle Fragen nach dem Wesen der Wirklichkeit. Cyberspasz spiegelt die entfesselten Welten des Digitalzeitalters. Der ´virtual reality` zieht Weigoni in diesen Novellen die reale Virtualität der Poesie vor und plädiert für die Veränderbarkeit der Welt.

 

 

* * *

Vor 10 Jahren erschien: Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermonatge: Jesko Hagen

Weiterfühend →

KUNO übernimmt Artikel von Kultura-extra, aus Neue Rheinische Zeitung und aus fixpoetry. Betty Davis sieht darin eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt hybride Prosa. Enrik Lauer deutet Schopenhauer im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.

Post navigation