Frequenzband

 

Charlotte dreht das Radio an, kurbelt an der Skala, sucht einen Sender und findet ein Chanson. Sie singen den Refrain „Je suis une femme fatale“ aus vollem Hals mit und machen sich im Folgenden daran, im Äther der alliierten Feindsender ähnliche Titel zu suchen.

Exzentrikerinnen des inneren Aufruhrs. Charlotte und Jane fahren in eine Stadt hinein, die nie ist, sondern wird. Sie erleben eine Migropole in einem fortwährenden Transformationsprozess, im Kollektivbewusstsein birgt sie Bilder, in denen das Neue stetig vom Alten durchdrungen ist. An der Banlieue markieren Eckpfeiler den alten Bebauungsplan, der durch die Migration überformt wurde. Im historischen Stadtkern wurden auf Anweisung des Kultusministers André Malraux die Fassaden der alten Bauwerke gereinigt und alte Akzente im neuen Glanz gesetzt.

Performanz. In Paris scheint es so zu sein wie in anderen Städten auch, im Osten liegen die populären Viertel, im Westen die feinen. Seit je war die menschliche Gesellschaft gespalten: in Besitzende und Besitzlose, Mächtige und Ohnmächtige, Eliten und Mehrheiten. Immer neue Gründe fanden die Wenigen, um den Vielen Ungerechtigkeiten aufzuzwingen. Rasse, Religion, Sprache und Nationalität sind altbekannte Kriterien für eine Kategorisierung von Menschen. Diese Welt ist nicht zeichenhaft, sondern auf unerbittliche Weise real, nicht mehr zu ändern; nurmehr zu ertragen. Ausbeutung beruht in dieser Gesellschaft darauf, sich zuerst selbst zum Subjekt der Ausbeutung zu machen. Die Grossstädter haben verlernt, dass zur Liebe Treue und Nachsicht gehören.

Scharade der Möglichkeiten. Kein Sinn. Keine Katharsis. Nicht einmal ein Hauch von Moral. Kein Halt, nirgends. Hypermoderne Menschen versuchen ihre Leerstelle mit chemischen Mitteln zu füllen, und gleiten dabei noch tiefer in einen Strudel unkontrollierbarer Ereignisse hinab. Sie sind zwar am Leben, aber in Wahrheit haben sie längst aufgegeben, Menschen zu sein. Ihnen ist dabei etwas elementar Humanes abhanden gekommen. Sex ist ihr Betäubungsmittel. Der Liebende ist kaum mehr Ich, bestenfalls eine Fiktion, eine Fantasie, er scheint kein feststehendes Subjekt zu sein, vielmehr eine Kombination verschiedener Posen.

Repräsentationskritik. Wer über den Neologismus Boulevardisation nachdenkt, hat den Eindruck, es wird Richtung Sonnenuntergang heller, aber auch grauer. Ihre erste Stadtrundfahrt endet im Quartier Ternes.

 

 

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Paris ist nicht nur eine Reise wert, sondern gleich eine ganze Ausgabe der Wortschau, die KUNO vorstellte. Sie lesen über die „ville lumière“ erhellendes von Monika Vasik, Annette Hagemann, Marion Hinz, Angelika Seite, Frank Norden, Dimitrij Gawrisch, Harald Kappel, Gundaga Rêpse, James Hopkins, David Oates, Kathrin Schadt, A.J. Weigoni, René Ullrich-Gérard, Michèle Pauty,Werner Weimar-Mazur, Crauss, Jensen, Peter Ettl, Jo Bernard. Durch diese unterschiedlichen Beiträge leuchtet Paris in einem ganz eigenen Ton. Hier wurde das Licht der Aufklärung und des sozialen Fortschritts entzündet, eine der ersten Universitäten Europas gegründet, fanden politische, soziale, künstlerische Revolutionen statt, die noch heute die EU bestimmen. Als Stadt der Lichtmalerei reicht die fotografische Tradition zu den Ursprüngen dieser Kunst, in den Straßen sind die ersten Fotodokumentationen von Eugène Atget entstanden. Diese Tradition wird fortgesetzt von der bildenden Künstlerin Kathrin Niemala und dem Grafiker Thorsten Keller, die dieser Ausgabe eine ganz eigene Note verleihen.