UNFÄLLE, MORDE UND ANDERE AUSFÄLLE

 

Ein entsetzlicher Krach, gefolgt von einem unmenschlichen Brüllen, lässt Sarah plötzlich hochfahren. Sie legt die Notizen zur Seite, springt aus dem Bett, rennt ins andere Zimmer zum Fenster. Zunächst bemerkt sie nichts. Die Regenströme ziehen schräge Schlieren auf die Glasscheiben, schleifen Bildbrocken mit sich nach unten. Visuelle Impulse ohne Zusammenhang, unverständlich. Sie öffnet das Fenster und beugt sich nach außen.

Auf der rechten Seite, etwa hundert Meter weiter, erblickt sie eine Frau, die schreiend und mit erhobenen Händen in ihre Richtung läuft, an ihrem Fenster vorbei, zum anderen Ende der Straße. Sarah dreht langsam den Kopf nach links. 

Auf dem Pflaster an der Kreuzung sieht sie den Leichnam eines acht- oder neuenjährigen Kindes. Es liegt auf dem Bauch, vor einem schief angehaltenen Kleinwagen. Der Wagen ist rot.

Die gespreizten Beine und Arme des Kindes ragen aus dem Anorak heraus, wie die Glieder einer zerquetschten Schildkröte. Der Kopf ist eine Masse von Hirn und Blut. Klumpen weißlichen Fleisches dampfen im Regen um den kleinen Kadaver, werden langsam weggespült. Neben der Leiche kniend und vor Schüttelfrost zuckend, zieht ein Mann seine Jacke aus und versucht, sie unter den zerplatzten Schädel des Kindes zu stopfen.

Auf der Seite des Beifahrers steigt eine Frau aus dem Wagen.

Sie stopft sich den Mund mit der Faust, um ihren hysterischen Schreianfall zu dämpfen. Die hintere Tür des Wagens ist offen und ein kleines Mädchen steckt sein Köpfchen hinaus. Es beginnt zu weinen, weil es seine Mama schluchzen sieht. Die andere Frau stolpert, rutscht auf allen Vieren, ihre Hände und Knie hinterlassen matte Streifen, die der Regen allmählich verwischt. Sie bückt sich über das tote Kind und rüttelt es. Sie redet ununterbrochen, zieht die Anorakärmel zu Recht, küsst die gekrümmten Hände, das zermalmte Gesicht. Sie erhebt den Blick und sieht den Mann an, der daneben kniet und sich mit verschränkten Armen unentwegt hin und her wiegt.

Sie schlägt mit den Fäusten auf ihn ein und brüllt.

Es sammelt sich eine kleine Schar von Menschen, die Frau vom Kiosk nebenan, einige Passanten, der Wirt der Kneipe an der Ecke. Alle stehen wenige Meter von der Szene entfernt und schweigen. Man hört plötzlich das Heulen des Rettungswagens und das des Polizeiwagens, die Gaffer ziehen sich zurück auf den Bürgersteig. Der kniende Mann steht auf, während seine Frau sich umdreht und ihre Tochter in die Arme nimmt. Sie schiebt die Kleine ins Innere des Wagens, steigt ein und schließt die Tür.

Die andere Frau kniet über den toten Jungen gebückt.

Sie weint jetzt leise.

Der Rettungswagen biegt in die Straße hinein, hält neben dem roten Auto an. Bremsen quietschen, Wagentüren werden geöffnet und zugeschlagen, zwei Männer und eine Frau steigen aus und laufen mit ihren kleinen Koffern zu der Umfallstelle.

Kälte und Nässe hacken Sarah in den Nacken wie zwei gefräßige Geier. Sie zieht sich zurück und drückt die Augen zu. Sie fröstelt, der Unterkiefer zittert, der Rücken ist steif. Ihr Kopf ist ein Eisblock, eingeklemmt zwischen den Schultern. Sie legt ihre Hände auf die Ohren, die Sirenen dringen jetzt gedämpfter durch, sie hört den Polizeiwagen das Geheul einstellen, öffnet die Augen und sieht zu.

Der Mann redet mit den Beamten und gestikuliert, zwei weiße Gestalten legen eine Trage auf den Boden und bücken sich über das tote Kind. Ein dritter Sanitäter versucht, die Mutter, die nicht aufstehen will, von der Stelle weg zu bringen. 

Eine heiße, ätzende Lawine steigt in Sarahs Mund und bricht nach außen. Sie erbricht auf die Fensterbank, auf die Wand, auf den Saum ihres Morgenrocks, auf die Beine, auf das Parkett.

Das Schlottern rüttelt sie, sie verliert das Gleichgewicht, klammert sich an den Fensterrahmen. Das Würgen hört auf.

Angeekelt rennt sie ins Badezimmer, steigt angezogen in die Badewanne und dreht den Hahn auf. Sie fröstelt unter der heißen Dusche, die das Unreine weg spült und sie mit stickigem Dampfnebel einhüllt. Sie bleibt lange unter dem Wasserstrom, bis sie den Geruch nicht mehr spürt, die Augen geschlossen und die Ohren verstopft. Ihre Knie zittern, der Morgenrock ist schwer, er drückt ihre Schulter nach unten, sie zieht ihn aus und lässt ihn in die Badewanne fallen und über ihre Füße, die eiskalt sind.

Tröstlich die Wärme und die Schwere des getränkten Frottiers…

Sie dreht den Hahn ab, nimmt das große Tuch und wickelt es um den Körper, steigt aus der Badewanne und nimmt vom Regal ein neues Handtuch, das sie um den Kopf wickelt. Aus dem unteren Schrank nimmt sie einen Putzlappen und einen Eimer, sie füllt ihn mit Wasser und Putzmittel und geht ins Zimmer zurück zum Fenster. Sie wagt einen Blick auf die Straße und blinzelt solange, bis die Tränen hinunter kullern und das Bild klarer wird.

Die Straße ist leer, Menschen und Wagen sind verschwunden, und die kleine Leiche auch. Auf dem Pflaster zerfallen hier und da zerstreute Fleisch- und Hirnbrocken unter dem Regen. Sarah putzt die Fensterbank, schließt das Fenster, schrubbt die verschmierte Wand, das Parkett und sieht nicht, was sie tut. Sie fröstelt so stark, dass ihre Faust immer wieder daneben rutscht und sie ihre Fingerknochen schürft.

Sie geht ins Badezimmer, leert das verschmutzte Wasser in die Toilette, gießt frisches in den Eimer und kommt zurück. Sie schrubbt noch gründlicher die Wand und das Parkett, reibt und stößt und stöhnt, es stinkt nach Erbrochenem, sie kann diesen Gestank nicht leiden, sie schabt und kratzt, bis der Lappen unter ihren Fingern zerreißt.

Das Telefon klingelt. Es klingelt schon eine Weile, sie hat es nicht gehört. Sie rennt zum Schreibtisch, nimmt den Hörer ab und hört nur noch den Ton. Sie legt den Hörer wieder auf und setzt sich hin. Auf dem Display des Telefons blinken die Zahlen: 14:15. Unverständlich. Sie wählt eine Nummer.

– „David, hast du gerade angerufen?“ heult sie am Apparat.

– „Nein! Sarah, Sarah, was ist los?“

– „Nichts… Doch! Es gab einen Unfall hier, einen schrecklichen Unfall…“, heult sie weiter.

– „Was für ein Unfall? Sarah?! Bist du in Ordnung? Warte, rühr dich nicht vom Fleck, ich bin in zehn Minuten bei dir, tu, bitte, nichts, ich bin gleich da!“

Sarah hält den Hörer in der Hand und hört das ununterbrochene Tönen, sie kann den Hörer nicht auflegen, sie kann ihrem Arm nicht befehlen: leg den Hörer auf! Er bewegt sich ruckartig und klopft mit dem Hörer gegen die Halterung. Nach mehreren Anläufen gelingt es ihm, ihn aufzulegen, und Sarah sieht ihrem Arm zu und kann nicht verstehen, dass er Teil ihres Körpers ist.

 

 * * *

 

Am Todestag von Ioona Rauschan erinnert KUNO an diese Autorin mit einer Leseprobe aus: Abhauen. Dieser Roman erschien 2008 beim Pop Verlag, Ludwigsburg.

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Auf der Schwelle. Ein Filmessay über Heinrich Heine von Ioona Rauschan. Edition Biograph, 1997

Die schöne Strickerin, Novelle von Ioona Rauschan, Edition Biograph, Düsseldorf 1995. (Antiquarisch erhältlich).

Weiterführend →

Ein Kollegengespräch mit Ioona Rauschan findet sich hier. Das Live-Hörspiel 5 oder die Elemente wurde in der Regie von Ioona Rauschan mit Marion Haberstroh und Kai Mönnich im Gutenberg-Museum zu Mainz uraufgeführt. Señora Nada, in der Regie von Ioona Rauschan, ist auf Hörbuch Gedichte erhältlich. Probehören kann man das Monodram Señora Nada in der Reihe MetaPhon.