Königskinder

Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb. Sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief. Das Wasser war viel zu tief.

(altes Volkslied)

  1. Akt

 

Als ich Johanna das erste Mal begegnete, war das erste, was mir auffiel, ihr schiefer Eckzahn. Es muss im Kirchenchor gewesen sein, an einem dieser regnerischen Tage. Meine aus dem Dorf gezogen, und mein Vater war die meiste Zeit still. Eine Art Schatten ging mit dem Schweigen einher. Vielleicht wusste er nicht, was er mit mir anfangen sollte? Auf jeden Fall schickte er mich nachmittags meistens in die Pfarrgemeinde. Es gab nicht viele Alternativen, das Dorf war klein, gleichsam hingespuckt zwischen der hügeligen Weinlandschaft, in der immer zuviel Wind wehte. Der Eckzahn bleib mir in Erinnerung. Ich weiß noch, wie ich Johanna beobachtete. Sie riss ihren schmalen Mund auf, wenn sie sang. Sah dabei aus wie ein Fisch. Ich konnte immer wieder den Zahn sehen, der ein bisschen zu groß war, leicht hervor sprang und von einer Zahnspange gehalten wurde. Ich weiß nicht warum, aber der Zahn gefiel mir. An mir waren auch sämtliche Dinge zu groß, im Besonderen die Nase. Später hörte ich oft, dass das doch typisch sei für dieses Alter. Ich weiß es nicht. Ich fühlte mich einfach nur nicht in einer mein Vater  ssenden Form. Während das Becken seltsam breit aussah und der Oberkörper viel zu kurz zu sein schien, schlenkerten meine Arme eigentümlich lang an mir herum. Die Finger sehen aus wie Spinnengebein, dachte ich, wenn ich mich in den Spiegel schaute.

„Schön“, hatte die Klavierlehrerin gerufen, als sie mich nach dem Sommer wieder gesehen hatte. Sie hatte damit die Finger gemeint, die nun über die Oktaven hinaus greifen können würden. Ich selbst fand mich und meine langen Finger nur seltsam. Wusste nicht so recht, wo ich sie hingeben sollte. Sie waren ständig im Weg, baumelten an mir herum wie deformierte Fremdkörper. Auch die Handgelenke sahen komisch aus, so, als könnten sie in jedem Moment abbrechen. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete, grauste mir vor den roten Pünktchen, die immer wieder mein Gesicht übersäten. Sie kamen und gingen über Nacht. Eine Brust war größer als die andere. Ich fühlte mich als seltsamer Auswuchs meiner selbst. Ähnlich mit meinen Gefühlen. Die spielten verrückt in meinem Bauch oder waren auf einmal wieder ganz verschwunden. Ließen eine Art Leere zurück. Im Herzen, im Hirn. Ein Druck an den Schläfen, der es schwer machte, zu schlucken. Als Mutter weg ging, war dieser Druck fast unerträglich geworden.

An diesem Abend wusste ich, ich musste mich mit ihr verbünden. Ich sah sie an, wie sie sang, hörte ihre hohe Knabenstimme jubilieren. Ich riss meine Augen auf. Sie blickte schamhaft zu Boden. Ihre Wimpern schimmerten dunkelgolden. Ich musste lächeln.

„Mach den Mund zu, Flora. Der Sopran ist dran“, murrte die Chorleiterin Sabine.

Ich blickte in ihr wulstiges Gesicht und nickte mit offenem Mund.

„Ich bin Flora“, sagte ich später und streckte Johanna meine Hand hin.

„Johanna.“

„Du singst schön.“

„Danke. Und du singst tief.“

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.

„Danke“, sagte ich deshalb zur Sicherheit, und schob mir eine der Haarsträhnen bemüht lässig hinter das rechte Ohr.

In der Zeit, in der ich Johanna begegnete, drehte ich mir nämlich mein Haar mit den Lockenwicklern meiner Mutter ein. Die hatte sie da gelassen, in dem Haus, das viel zu groß war für uns drei, meinen Vater, die Schildkröte und mich. Die Lockenwickler sahen aus wie Schaumrollen. Ich wickelte die einzelnen Strähnen um die runden, genoppten Dinger. Dann steckte ich diese mit kleinen Plastiknadeln fest. Das pikste an der Kopfhaut. Es war ein guter Schmerz. Ein Schmerz, der mich daran erinnerte, dass ich einen Kopf hatte. Außerdem waren die Lockenwickler eine der wenigen Dinge, die meine Mutter mir von sich gelassen hatte.

Seitdem spürte ich oft Schläge in meinem Bauch. Zum Beispiel, wenn ich durch die Gänge der Schule streifte und von Jungs in weiten Hosen und mit Kappen angeguckt und ausgelacht wurde.

Ich versuchte, schön aus zu sehen. Spielte mit einer meiner Haarsträhnen. Sie roch nach Shampoo und Farbfestiger. Bevor ich in die Chorproben ging, wusch ich mir immer das Haar. Es sollte leuchten. Ich verteilte den Schaum des Kurfarbfestigers darin. Dann rollte ich die Strähnen auf, fixierte sie mit den Plastiknadeln. Dann föhnte ich. Das dauerte lange. Obwohl ich das Haar nur bis zum Kinn trug, war es schwer und dicht. Die Lockenwickler hingen, sie taten weh. Das Gewicht ließ sich nur schwer ertragen. Aber ich ertrug es. Den ganzen Nachmittag. Bis es zu dämmern begann. Dann löste ich die runden Dinger aus dem Haar. Einige der Zacken waren bereits abgebrochen. Immer wieder verhedderten sich Strähnen in diesen Leerstellen, die zwischen die Zacken geraten waren. Manchmal riss ich daran, rupfte mir versehentlich Strähnen aus. Ich hatte auch Nester im Haar, besonders da, wo der Nacken begann. Ich kämmte, fluchte. Aber ich hörte nicht auf. Dass sich mein Haar wellen sollte, das bildete ich mir einfach ein. Jetzt spielte ich damit. Das hatte ich mir bei meiner Cousine abgeschaut. Sie war achtzehn und jeder liebte sie.

Aus der Nähe sah ich, dass Johannas Haar fein war. Es fühlte sich bestimmt samtig an, dachte ich.  Rollte sich am Ende der Strähnen leicht nach Innen. Meines hingegen war von strohiger Beschaffenheit.

„Ich mag deine Haare“, sagte Johanna. Als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Ich lächelte.

„Danke.“

„Die sind so gerade“, fuhr sie fort.

Ich seufzte leise. Die vielen Nachmittage. All die Anstrengung: Umsonst. Nach weniger als einer Stunde hingen meine Haare wieder an mir hinab wie Spaghetti. So also auch jetzt. Ich wusste nicht, wie kurz ich sie noch hätte schneiden sollen, dass sie nicht an meinen Wangen klebten. Aussahen wie hingepappt.

„Aha“, antwortete ich schließlich, um irgendetwas zu sagen.

Wir standen eine Weile so da und schwiegen einander an. Ich konnte Johannas Atem an meiner Wange spüren. Hinter dem Fenster hatte es zu dämmern begonnen. Der Moment schwappte über mich. So, dachte ich, könnte sich Sein anfühlen. Der Rest des Chores war bereits gegangen. Sabine klappte das Klavier zu, schob ihre Mappen unter die Arme und lächelte uns an.

„Na, ihr Küken, jetzt aber ab mit euch. Eure Eltern werden schon warten.“

Sie blickte mich von der Seite an.

„Ich meine. Dein Vater, Flora.“

Ich nickte und schlüpfte in meine Jacke, ohne Johannas Eckzahn noch einmal neugierig zu mustern.

Johanna lächelte Sabine an. Ihre Zahnspange blitzte.

„Vielen Dank, Sabine. Und auf bald.“

Sie drehte sich um, und ich sah den Ansatz ihres Nackens. Ihr Haar war dunkelblond, in einer Art Pagenkopfform geschnitten. Ich hastete diesem Nacken mit stammelnden Schritten nach. Konnte gerade noch erkennen, wie Johanna in den Regen entschlüpfte, der eine Art Schleier hinter ihrem Rücken bildete. Die Tür eines blitzenden großen Wagens sprang auf. Ich sah die Konturen eines Mannes, stark hervorspringende Backenknochen, ein ausgemergeltes Gesicht. Dicke Brillengläser. Das musste ihr Vater sein.

 

 

***

Zwei Königskinder, Roman Sophie Reyer, Czernin, 2020

Käthe ist dreizehn und wächst in der Provinz auf. Sie fühlt sich einsam und hässlich. Die Mutter hat die Familie verlassen, der Vater ist wortkarg. Verträumt streunt Käthe durch das Dorf und vermisst die Zeit ihrer Kindheit. Das Erwachsenwerden setzt dem Mädchen mehr und mehr zu, ist es doch ihr größter Wunsch, geliebt zu werden.

Als Käthe in der Chorprobe aber zum ersten Mal Johanna begegnet, scheint sie in ihr nicht bloß eine Freundin, sondern auch ein neues Zuhause gefunden zu haben. Zusehends verwirrt von den Gefühlen, die sie für ihre um zwei Jahre ältere Freundin entwickelt, beginnt sich etwas in Käthe zu verändern. Irgendetwas an ihren Gefühlen für Johanna scheint »nicht ganz normal« zu sein.

 

Weiterführend → Die Sprechpartitur wurde mit dem lime_lab ausgezeichnet. Einen Artikel zum Konzept von Sophie Reyer und A.J. Weigoni lesen Sie hier. Vertiefend zur Lektüre empfohlen sei auch das Kollegengespräch :2= Verweisungszeichen zur Twitteratur von Reyer und Weigoni zum Projekt Wortspielhalle. Eine höherwertige Konfigurationentdeckt Constanze Schmidt in dieser Collaboration. Holger Benkel lauscht Zikaden und Hähern nach. In ihrem preisgekrönten Essay Referenzuniversum geht Sophie Reyer der Frage nach, wie das Schreiben durch das schreibende Analysieren gebrochen wird. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier. Eine Würdigung des Lebenswerks von Peter Meilchen findet sich hier. Alle LiteraturClips dieses Projekts können hier abgerufen werden. Hören kann man einen Auszug aus der Wortspielhalle in der Reihe MetaPhon.