Ein Buch der Stunde

 

Es sind da Dinge, die vergisst man nicht, und man begreift vielleicht erst spät, was sie einerseits bedeuten, andererseits, welche Auswirkungen und schlicht Lebensveränderungen sie mit sich bringen. In diesem, dem unseren, an Brüchen und nunmehr Apokalypsen so reichen Doppeljahrhundert dürfte die herbstliche Revolution in Ostdeutschland samt ihrer Nachhut eine der wenigen Leistungen sein, in der sich Aufklärung und Vereinnahmung, Hoffnung, Mündigkeit und Desillusion begegnen und die Klinke reichen.

Es war das erschütterndste Ereignis der späten DDR, ein sanftes Wochenmaß :an Atem nach langem Verharren, ihre verheißene, nie eingetretene Aurora, ihr Ende zugleich: die Friedliche Revolution 1989. Immerhin spielten The Cure im Sommer vor der Vereinigung in Leipzig, und die Berge an Bierbüchsen dufteten nach Freiheit und Abendrot. Die widersprüchlichen Momente dieses die Weltgeschichte erschütternden Vorgangs versucht man seitdem in Reportagen, Büchern und Aufsätzen zu fassen, und Gesang, Streit und Widerstreit über Wohl und Wehe des Vonstattengehens wogen bis heute.

Ralph Grünebergers im Gmeiner-Verlag in Meßkirch erschienener, etwas über 300-seitiger Roman „Herbstjahr“ dürfte, obwohl Fiktion, als eines der persönlichsten und umfassendsten Dokumente einer jahre-, jahrzehntelang eingeforderten Wende-Literatur gelten. Dieses Buch, das, mit Vor- und Rückblenden, die Geschichte der wohl ungewöhnlichsten Revolution in drei Strängen erzählt, ist ein berührendes, historiografisches wie höchst authentisches Werk, das sich mit dem Paradoxon der friedlichen Wende in Leipzig und im Übrigen östlichen Deutschland und ihren Nachwehen beschäftigt.

Erzählt wird in drei lose sich berührenden und sich am Ende in einer Art Rondell sich wieder verbindenden Strängen die Geschichte von Jesse, Monika und Rainer, die als Kollegen und Freunde bzw. als Geschwister miteinander verbunden sind. Grüneberger gelingt es stupend, die Mentalität, Duft, Situation vor und im Jahr nach der Wende zu erfassen – er setzt damit der Mündigkeit der DDR-Bürger, die auf die Straße gehen, wie den Versuchen, kurz vor und nach der Wiedervereinigung in dem Neuen anzukommen, ein Denkmal.

Jeder, der an den Demonstrationen in der später als „Heldenstadt“ geehrten Metropole Leipzig teilnahm, erinnert sich an das untrügliche Gefühl, das sich einstellte, wenn aus Furcht und Unbehagen Protest wurde und schließlich der Druck der Angst einer i. e. S. Befreiung und eben Mündigkeit wich: Es ist das Eigentliche und Prägende, das den Demonstranten bis heute geblieben sein dürfte, ihr Leben unumkehrbar beeinflusst hat.

Andere wiederum ergehen sich zunächst aus der Ahnung heraus, verloren zu haben, in Apathie, die aber angesichts der neuen Reize schnell in Anpassung sich wenden kann. Jesse schlägt sich zunächst durch; Rainer kommt, nachdem seine Flucht durch den Mauerfall obsolet geworden ist, zurück und möchte gern etwas vom Kuchen der neuen Möglichkeiten abbekommen. Monika geht ihrem Traum nach, aber die Annahme auf der Schauspielschule gestaltet sich aus nicht zuletzt bürokratischen Gründen schwierig.

Viel treffender und berührender als in diesem Buch kann man das Schicksal dreier Menschen, die symbolisch für die junge Bevölkerung der DDR – ausgebildet für ein Staatswesen, das es plötzlich nicht mehr gibt – stehen, kaum beschreiben. Neben der großen fiktiven Kraft, die dieses zugleich behutsam erzählende Buch in sich trägt, ist „Herbstjahr“ zugleich ein Dokument einer Zeit, die nun dreißig Jahre zurückliegt und die nicht zuletzt angesichts der Entwicklungen, die momentan diese Errungenschaften unter den Scheffel der Schwierigkeiten beim Ankommen und Sich-zurecht-Finden stellen wollen, und auch ganz klar und historisch plausibel und offen an die Schulen, ins Gespräch gebracht gehört.

Gerade der Schluss des Buchs macht die Zerbrechlichkeit des Errungenen wie Erträumten sichtbar – der Anfang, der einem Ende innewohnt, gehört gehegt und geschützt im Sinne einer fortgesetzten Aufklärung, die sich gegen Gewalt, gegen jede Übertölpelung und Persönlichkeitsbeschneidung richtet. Eine aufgeklärte Gesellschaft sollte es verstehen, seine Bürger zu schützen, ohne sie auszuliefern.

Ralph Grüneberger, der sich einen Namen als Lyriker wie Erzähler und umsichtiger ‚primus inter pares‘ der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik einen Namen gemacht hat, gelingt mit diesem Roman ein bedeutendes Buch, das in die Öffentlichkeit gehört und gleichsam zur zeigenden, nicht belehrenden Unterweisung und Anregung zu Erinnerung wie Diskussion vortrefflich geeignet ist. „Herbstjahr“, dieser persönliche, persönlichste Versuch, über die Erlebnisse der mittleren wie der jüngsten Generation im östlichen Deutschland zu erzählen, ist ein Buch, das ich jedem empfehlen möchte, der über die Gnade und Herausforderung dieser Monate und Jahre, da ein halbes Volk sich befreite und schnell in ein neues, gänzlich anderes System geriet und sich so auf den Weg machte, gleichsam, wie.

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall und in Jahren, die angesichts der Vielzahl Verwerfungen in ihnen [sic!]Schnappatmung machen, ist „Herbstjahr“ ein Buch der Stunde, es wird lange darüber hinaus von den Jahren, die uns prägten, ihrem Licht und ihren Widersprüchen, künden. Respekt dem Mann, der dieses festhielt und schrieb. Respekt den Menschen, die dies auf sich nahmen und Veränderungen in Kauf, für unter anderen Umständen zwei Leben kaum reichen mögen. Und Mut für die, die angehalten werden und sich entscheiden, von dieser gewaltigen Zeit Kunde zu bekommen, die auf das Leben so vieler Menschen – auf die eine oder die andere Weise – Einfluss nahm.

 

 

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Herbstjahr, Roman von Ralph Grüneberger. GMEINER 2019

Weiterfühend →

Zur historischen Abfolge, eine Einführung. Eine Rezension von Jo Weiß zu Abgeschlossenes Sammelgebiet, Roman von A. J. Weigoni, findet sich hier. Einen Essay von Regine Müller lesen Sie hier. Beim vordenker entdeckt Constanze Schmidt in diesem Roman einen Dreiklang. Auf Fixpoetry arbeitet Margretha Schnarhelt einen Vergleich zwischen A.J. Weigoni und Haruki Murakami heraus. Eine weitere Parallele zu Jahrestage von Uwe Johnson wird hier gezogen. Die Dualität des Erscheinens mit Lutz Seilers “Kruso” wird hier thematisiert. In der Neuen Rheinischen Zeitung würdigt Karl Feldkamp wie A.J. Weigoni in seinem ersten Roman den Leser zu Hochgenuss verführt. Einen Essay lesen Sie bei Buecher-Wicki.

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