Im Tunnel

Der Zug aus Paris surrte mit irrem Tempo über die singenden Gleise auf den Tunnel zu, der die Kontinente tief unter dem Wasser des Meeres verband, da ging plötzlich der Mond auf, der an diesem Tag ins Metall der Schienen fiel wie nie zuvor, denn als er beim Auftauchen über dem Horizont Auge in Auge mit den grellen Lampen der Lokomotive erschrak und in seiner Umlaufbahn um die Erde stolperte, zuckte das Eisen, hüpften die Räder.

Der junge Mann, dem die geschürzten Lippen der schönen Frau auf der anderen Seite des Ganges den Kopf verdrehten, hatte keine Augen für den Schrecken des kühlen Gestirns, obwohl der schwarze Himmel sein Licht durch das Fenster, an dem er saß, auf seinen Nacken strahlte, die Augen suchten die Antwort der Frau, die sie verweigerte, sie erwartete ihn, sie hatte ihn längst gesehen, als er den Koffer nach oben wuchtete, sie spiegelte sich im Selbstgespräch seines Körpers, nun wartete sie auf eine neue Strategie, einen Schritt, auf den sie frei reagieren konnte, die stechenden Augen fesselten sie, aber sie genoss die Hitze des Blicks, er beugte sich langsam zu ihr, mit dem linken Arm stützte er sich auf der Lehne ab, langsam dehnte sich sein ganzer Leib, den er unter der dünnen Fensterleiste mit den Füßen verankerte – es war, wie sich bald zeigte, geradezu lebensgefährlich! – sein Kopf streckte sich nämlich zur Mitte des Gangs und bedrohte von nun an die Lufthoheit der Schönen, die sich mit der bloßen Vorstellung dieser außergewöhnlichen Verrenkung, die ihr galt, begnügte, ein Sportler, dachte sie, so bewegen sich nur Bodenturner, vielleicht auch Stabhochspringer, sie löste die Haltung ihrer Beine und schlug nun das dem Strategen zugewandte Bein so über das andere, dass sein Kopf, der es nun noch schwerer hatte den Blick zu halten, sich plötzlich in einer helleren Umgebung befand, er darf jetzt nicht den Halt verlieren, in Anbetracht der Zukunft, aber sie denkt, wenn er fällt, hat er mit seiner Strategie erreicht, was er wollte, die kleinste Erschütterung, und der junge Mann fällt mir vor die Füße, erst dann kann ich ihm antworten, das denkt er auch gerade, aber er will nicht fallen, er will sie im Moment seiner größten Ausdehnung ansprechen, ihren Blick auf sich lenken, ihren Kopf für sich gewinnen, was soll er sagen, fragt sie sich, und er – denkt mein Körper die Frage?, was soll ich sagen, ich will Sie heiraten.

Er öffnet den Mund, ein waagrecht im Raum liegender Engel, er will gerade das erste Wort sagen, da hob der zornige Trabant den Zug von den Schienen und ließ ihn zwischen diesen und den Gleisen der Gegenrichtung wieder fallen, kurz bevor das schwarze Loch, das der Lokführer in der Ferne erst erdachte, ehe er es auf sich zukommen sah, bebte, die schreckliche Nase mit den beiden schwarzen Löchern im Antlitz der Erde, das vor lauter Wut ganz schmal wurde und die Scheidewand der Tunnelröhren, die eng zusammenrückten, so schärfte, dass sie wie ein Messer den Zug, der gegen sie stieß, von vorn bis hinten aufschlitzte, während die beiden Zughälften im Tunnel verschwanden. Die Räder sprangen im blinden Mond links wie rechts wieder auf die Gleise, rasten mit kaum verminderter Geschwindigkeit unter dem Ozean dahin und erzeugten in der Doppelröhre eine zauberische Musik.

Die Passagiere des vollbesetzten Zuges saßen versteinert auf ihren schiefen Sitzen und wagten kaum zu atmen. Der junge Mann, dem das Wort im Munde steckengeblieben war, war noch einmal mit dem Leben davongekommen, er war vornüber auf den Boden des halben Mittelgangs gestürzt, der Kopf war ins Schwarze vorgestoßen, fast schon bei der schönen Frau, die auf seine halbe Frage keine Antwort geben konnte. Ihm verging Hören und Sehen, sein Kopf spürte nur kurz den Tunnelsturm, bis ihm das Bewusstsein schwand.

Der gespaltene Zug trieb den verführerischen Gesang des Eisens durch den Meeresboden, von dort stieg er durch das tiefe Wasser auf und beruhigte, als riefe das Eisen für den Chor der verdammten Seelen ein verschlüsseltes SOS zum Himmel, den Sturm, und im Silbermeer war der Mond von seinem Spiegelbild geblendet. So groß war der Schwung der gespaltenen Masse im Tunnel, dass der Zug – als er in doppelter Gestalt am anderen Ufer des Meeres aus seiner Finsternis ins Freie schoss, der Gesang verstummte, der Wind neue Wellen erzeugte, der Mond, der immer noch knapp über dem Horizont stand, mit aufgerissenen Augen erneut in den hellen Schein der Zuglichter sah und noch einmal heftig erschrak, noch einmal stolperte, noch einmal das Eisen zuckte, die Räder hüpften, von den Schienen abhoben, im Fluge, indem die beiden Hälften zusammenfielen – sich wieder zu einem Ganzen fügte, diesmal von ganz anderen Kräften gelenkt.

Der junge Mann lag vor den Füßen der Frau, die er unter Lebensgefahr begehrte. Er war immer noch bewusstlos. Sie stand auf und indem sie sich zu ihm niederbeugte, wusste sie, dass sie ihm die ganze Antwort geben wird, die sie dem taub vor ihr Liegenden unerhört zurief: Ja! Alle wussten, sie hatten die Kraft des Mondes unterschätzt. Endlich aber fiel von den Reisenden die steinerne Last und sie sangen, nachdem der Zug wieder auf die Schienen gesprungen war, das Lied der Erde.

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.