Der Hopfnungsträger

Auch Wasser wird zum edlen Tropfen

Mischt man es mit Malz und Hopfen

Sprichwort

Vorbemerkung der Redaktion: Das Kultusministerium NRW unterstützt die Arbeit an diesem Roman mit einem Arbeitsstipendium. Die „Brauereifachfrau“ Martina Haimerl hat für KUNO einen Blick in das Handexemplar geworfen:

Latzenbier, Photo: Markus Hartmann

Der rheinische Witz ist der Kitt, der die Lokalhelden zusammenhält. Es hat dafür ein hervorragendes „Schmiermittel“, das einerseits die Zunge löst und andererseits sediert. Die Gelassenheit dieser Population hat mit dem obergärigen Bier zu tun, es sediert. A.J. Weigoni hat die Brauvorgänge korrekt beschrieben und den Fachjargon poetisch verwandelt. Die clevere Ettiketierung „Reinheitsgebot“ ist in einem Sitzungsprotokoll des bayerischen Landtags vom 4. März 1516 belegt. Laut dem Leiter des Bayerischen Hauptstaatsarchivs Erich Stahleder wurde der Vorschrift mit der neuen Bezeichnung „Reinheitsgebot“ bewusst eine neue Aufgabe übertragen, „die des Promotors in einer zunehmend von der Werbung abhängigen Branche“. Das Obergärige hingegen bezeichnet ein Bier nach alter, traditioneller Brauart, sie verweist auf die Brauweise mit obergäriger Hefe. Der Gärprozess findet bei einer höheren Temperatur statt als bei einem untergärigen Bier üblich ist. Das hat sich auch außerhalb von Bayern als vorteilhaft erwiesen, da bis 1873 keine technische Kühlung existierte. Die handwerkliche Tradition dieser Urform dieses Craftbeers wird sowohl in Bayern als auch im Rheinland bis zum heutigen Tag fortgesetzt.

Die Heimat nicht den Lodenmantelträgern überlassen

Unabhängig von allen literaturwissenschaftlichen Kategorien, vertraut Weigoni einzig auf seinen genauen Blick auf jene Dinge des Alltags, in deren Erscheinung sich die psychologisch-politische Befindlichkeit einer Epoche widerspiegelt, zu einer brillanten Analyse des „Scharnierjahrzehnts“ und seiner Ursachen vordringen konnte. Er erzählt von einem Rheinland, das erst werden musste, was es ist. Dem transzendentalen Heimweh der Universalpoesie setzt Weigoni die Heimat entgegen. Die Lokalhelden sind voll von ungewöhnlichen und beinahe vollendeten Geschichten, die ihre eigene Logik aus ihren logischen Brüchen entwickeln. Mit seinem wilden, lebhaften Geplapper aus verlorenen Zeiten trotzt der Roman der Ferne der Vergangenheit und evoziert das Skandalöse an der Sterblichkeit; doch wäre er nichts ohne die bereits bestehende Heldengeschichte über Willy Brandt, die er am Ende nur bestätigt und um ein groteskes, aber gefälliges kleines Ornament ergänzt. So vertraut uns diese Zeit aus heutiger Sicht erschient, es ist ein „historischer Roman“, wie lebendig er auch sein mag, er ist niemals bloße Zeitreise, sondern immer ein Gespräch zwischen dem Damals und dem Heute. Und ein guter historischer Roman führt die Fremdheit des Damals in die Vertrautheit des Heute ein – und verstrickt sie miteinander, fesselt und erschüttert alle beide.

Jede ästhetische Innovation setzt die bisherige Kunst ins Perfekt.

Das Können von Weigoni besteht darin, seinen Charakteren in den relativ unbeschwerten Momenten in der „Alkstadt“ mittels scharfer Beobachtung, Selbstironie und einer mehr oder minder komplex aufscheinenden Vergangenheit eine abgründige Tiefe und dieser Population zustehende Einzigartigkeit zu verleihen. Weigoni bohrt sich in seinem Heimatroman Lokalhelden tief in die Innenwelten der Rheinländer hinein. Diese Population wird in schillernden Erzählminiaturen aufgespießt, ihre Heimat- und Haltlosigkeit im neuen Deutschland wird mit Ironie und mit Sprachwucht beschrieben. Verlorensein ist eines seiner Hauptthemen, eine ständig missglückte Kommunikation. Indem Weigoni en passant die rhythmischen und klanglichen Qualitäten des Rheinischen untersucht, kommt er zu dem Ergebnis, dass nicht die Figur, sondern der Dialekt spricht. Die Rheinländer sind nicht in der Lage, ehrlich zu sein. Weigoni macht ihnen daraus keinen Vorwurf, es geht ihm um das Verständnis darum, dass diese Menschen es nicht können, weil sie es nicht gelernt haben. Die Unfähigkeit, sich zu verständigen, ist der Auslöser für ein Desaster. Zudem ist das Profane dieser Leben häufig in einen originellen Rahmen gefasst und schafft in Verbindung mit dem sehr feinfühlig und anschaulich gezeichneten Innenleben für die Leser eine reizvolle Spannung. Weigonis Fragen kreisen um Zugehörigkeit jenseits konventioneller Zuschreibungen wie Heimatland, Muttersprache oder Gender:

Was definiert die Rheinländer? Was hält sie zusammen? Wie lässt sich geographische, soziale oder geschlechtliche Begrenzung aufbrechen? Wo verlaufen die Sollbruchstellen im menschlichen Bewusstsein?

Weigoni fühlt der untergehenden Bonner Republik den Puls und registriert die Fieberkurve des oft missbrauchten Begriffs „Heimat“. Lokalhelden ist ein historischer Roman, der die untergehende Bonner Republik in „hypermodernem“ Bernstein einschließt. Man kann diese Prosa als Vehikel für seine fiktionale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit schätzen, und dies besonderes bezüglich jener Aspekte dieser Vergangenheit, die das Selbstverständnis und die kollektive Selbstbeschreibung der Menschen noch heute berühren. Die Rheinländer gehören zu jenen, die nicht so funktionieren, wie es in einer konformistischen Welt von ihnen erwartet wird, wie sie es selbst von sich erwarten. Bei aller Freiheit der Wahl unterliegen Beziehungen einem Reglement, das sich immer stärker an gesellschaftlichen Normen orientiert. Ihre verlässlichsten Erinnerungen sind die am wenigsten authentischen, gerade die besonders vertrauten Erinnerungen sind demnach überformte Erinnerungen. Empfindungen sind programmiert, sozial und medial. Dem rheinischen zu Eigen sind Sprachwitz und Gedankengänge die wie seltsam vertraute Labyrinthe anmuten. Subjektiv sind diese Leute immer an ein Jetzt gekettet, im Alltag fehlt ihnen der Hallraum, das raunende Imperfekt, aber dafür gewinnen sie mit ihrem Dialekt an Unmittelbarkeit, nichts ist vergangen.

Wir lesen eine Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik.

Diese Ereignisse sind im kollektiven wie im individuellen Gedächtnis der Bewohner verankert. Jeder im Ort kennt sie und alle gemeinsam gedenken ihrer jedes Jahr beim Karneval. Andererseits gibt es Rituale, Geisterbeschwörungen und Wunderglauben in der Stadt, die ganz andere Orte und Zeiten nahelegen, so als wären mit dem Sommenbrauchtum auch Geschichten aus voraufgeklärten Zeiten ins Rheinland gekommen. Weigoni gelingt die Kunst, politische Thesen in seinem Roman unterzubringen, ohne den süffigen Ton der Erzählung zu beschädigen. Anders als in dem zur Vereindeutigung neigenden Deutschland spielt die Vieldeutigkeit für die Lokalhelden eine eminente Rolle. Wenn man Rheinländer ist, hängt nicht davon ab, ob die eigenen Vorfahren sich während der für die Gründung der ´Bonner Republik konstitutiven Ereignisse auf diesem Boden befanden, sondern vom Verfügen über die diese Ereignisse verkörpernden Geschichten. Die Unmenschlichkeit gehört im Rheinland zur Menschlichkeit. Der vermeintliche Aufstand der sogenannten 1968er, die sich von den Altnazis befreit geglaubt haben, die Wohn- und Lebensformen und den Dosenpfand eingeführt zu haben, es sind Narrative, die in jeder Generation reproduziert werden. Die Probleme der Bonner Republik erscheinen dem Leser extrem fern, in seinem Wesen kommen sie uns unglaublich nah. Die Spannbreite der Lokalhelden reicht vom Kleinsten ins Größte und vom Innersten ins Äußerste, der Roman erfasst die sozialen Tatsachen ebenso genau wie die Sprache. Weigoni hat die Tonspuren des rheinischen Dialekts für die Gegenwartsdichtung neu abgemischt, die radikale Verdichtung des Stoffs erweckt das Rheinland zum Leben.

Heimat sei ein Ort, so heißt es, an dem noch niemand war.

Poetischer Realismus, Melancholie und Magie, das macht die Poesie von Weigoni aus. Seine wiederkehrenden Themen sind das Vergehen der Zeit und damit verknüpft Veränderungen von Körper und Geist, von Beziehungen und der Gesellschaft, in der die Charaktere leben. Revolutionäre und Reaktionäre sind im Rheinland keine Gegenfiguren, sondern bilden zusammen eine einzige Kippfigur. Dieser Satiriker ist Staubaufwirbler des rheinischen Selbstverständnisses, sein Roman ist eine melancholische Suche in die seelischen Abgründe des Rheinlands. Das Schreiben zeigt sich in dieser Prosa als Praxis, in der die unüberwindbare Distanz zwischen Ich und Welt mit Humor und Stilbewusstsein angenommen wird. Wer die Fantasie animiert, verändert die Wirklichkeit. Den Rheinländern bleibt nichts anderes übrig, als das Schicksal, das ihnen keinerlei Vorteil verschafft hat, übers Ohr zu hauen. Weigoni umkreist Existenzen und macht sie dadurch sichtbar. Der Zerfall einer Zivilgesellschaft ist selten so plausibel dargestellt worden.

 

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Lokalhelden, Roman von A. J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2018 – Limitierte und handsignierte Ausgabe des Buches als Hardcover.

Coverphoto: Jo Lurk

Weiterführend →

Lesenswert das Nachwort von Peter Meilchen sowie eine bundesdeutsche Sondierung von Enrik Lauer. Ein Lektoratsgutachten von Holger Benkel und ein Blick in das Pre-Master von Betty Davis. Die Brauereifachfrau Martina Haimerl liefert Hintergrundmaterial. Ein Kollegengespräch mit Ulrich Bergmann, bei dem Weigoni sein Recherchematerial ausbreitet. Constanze Schmidt über die Ethnographie des Rheinlands. René Desor mit einer Außensicht auf die Bonner Republik. Jo Weiß über den Nachschlüsselroman. Margaretha Schnarhelt über die kulturelle Polyphonie des Rheinlands. Karl Feldkamp liest einen Heimatroman der tiefsinnigeren Art. Walther Stonet lotet Altbierperspektiven aus. Conny Nordhoff erkundet die Kartografie. Zuletzt, ein  Rezensionsessay von Denis Ullrich.