Die Totengeister des Digitalen

Freiheit ist keine App aus dem World Wide Web

Die Ärzte

Ein Gespenst geht um im Internet, das Gespinst der Vernetzung. Nurmal kurz angenommen, das Internet wäre ein reales Abbild der Geistesverfaßung, dann fehlt den Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor allem: Ein Bewußtsein für die Realität. Mit Cyberspasz, a real virtuality dekodiert A.J. Weigoni die Postmoderne: Wo sie post ist und er geschichtliche, ideologische Differenzen hinter sich läßt. Und wo sie modern ist, will sagen, mit einem Schuß Utopie ausgestattet ist. Dieser Romancier betritt die Grauzone zwischen realitätsträchtiger Fiktion und fiktional zugerüsteter Realität, seine Novellen schildern das Leben des Robo Sapiens. sind eine gleichermaßen halluzinatorische wie hellsichtige Bestandsaufnahme einer sich unaufhaltsam verändernden Realität – und unserer Hilflosigkeit bei dem Versuch, mit diesen Veränderungen Schritt zu halten.

Erst wenn uns die Computerprogramme das Denken abnehmen, erscheinen Zweifel angebracht. Kreativität, Innovation und künstlerische Schöpfung ist nur im Kontext des brillanten Individuums denkbar, das durch den “digitalen Maoismus”, wie ihn das Internet hervorbringt. Hieraus leitet sich für Jaron Lanier ein weiterer Kritikpunkt ab: Freie und OpenSource–Software habe auch versagt, weil sie einigen wenigen Firmen ermöglicht habe, große, zentralisierte Dienste und Datenbanken zu entwickeln, um im Folgenden von der Verarbeitung und Ausbeutung der Nutzerdaten zu profitieren. In Cyberspasz, spielt Weigoni die Wirksamkeit der Asimov’schen Gesetze der Robotik durch und der Leser erkennt, daß der Sprung der künstlichen Intelligenz zum Bewußtsein und damit zum Verlangen nach Selbstbestimmung unabwendbar ist. Wie bereits in den Erzählungen Zombies eingeleitet, beschreibt nur außerordentlich klarsichtig das mögliche Ende einer Gesellschaft, so wie wir sie kannten. In seinen Erzählungen geht es immer wieder um den Wert der Freiheit des Einzelnen, um Ausbeutung, um Individualismus und Selbstbestimmung in Systemen, religiösen wie politischen, die auf Gleichschaltung ausgelegt sind. Weigonis verknüpfte Prosa ist zugleich eine Erzählung über die Niederlage des Einzelnen in seinem Aufbegehren gegen Herrschaftsverhältnisse, dabei steht das heroische und autonome Individuum im Zentrum vieler populärkultureller Selbstbeschreibungen der europäischen Gesellschaft. Im Gegensatz zu dieser Narration verweist Cyberspasz auf die Unmöglichkeit autonomer Handlungen im gesellschaftlichen Gefüge. Es ist ein beständiges Rauschen von Stimmen in der Prosa von Weigoni, der mit liebenswürdigen Einfällen bezaubert und mit seinem Sprachwitz überzeugt. Ein Finder und Erfinder von Geschichten, in der großen wie der kleinen Form.

Eine neue Generation von Searchbots steht an, intelligente Agenten, die Verhaltensmuster in den Aktionen der Benutzer beobachten und auswerten; sie programmieren sich selbst. Je häufiger der Anwender ein lernfähiges Bot benutzt, desto besser kann der digitale Diener auf die Gewohnheiten und Wünsche seines Herrn eingehen. Dem Leser wird eine ganze Bandbreite der Möglichkeiten geboten, die naturgemäß zahlreiche Gelegenheiten zur Interaktion zwischen Mensch und Maschine bereitstellt. Das „digitale Panoptikum“ kennt nicht nur unsere äußeren Lebensumstände, sondern kann direkt in unsere Seele blicken. Der Emanzipationsgedanke für die Maschine ist umso aktueller, als eine Position um den Hirnforscher Wolf Singer erahnen läßt, wie weit in dessen Vorstellungen der Mensch vornehmlich nach mechanischen Kriterien funktioniert und demzufolge als willensunfreie Maschine konditioniert ist. Prekarier aller Länder – verkabelt Euch!

 

 

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Cyberspasz, a real virtuality, Novellen von A. J. Weigoni, Edi­tion Das Labor, Mülheim an der Ruhr 2012.

Covermonatge: Jesko Hagen

Weiterführend →

KUNO übernimmt Artikel von Jo Weiß aus Kultura-extra, von Karl Feldkamp aus Neue Rheinische Zeitung und von Christine Kappe aus der vom Netz gegangenen fixpoetry. Betty Davis sieht in Cyberspasz eine präzise Geschichtsprosa. Margaretha Schnarhelt erkennt in der real virtuality eine hybride Prosa. Enrik Lauer deutet diese Novellen als Schopenhauers Nachwirken im Internet. In einem Essay betreibt KUNO dystopische Zukunftsforschung.