Die Kunst ist das Sinnesorgan der Gesellschaft.

 

Vilém Flussers zentrales Thema war der Untergang der Schriftkultur. Obwohl seine Überlegungen unentwegt um das Thema „Krise“ kreisten, weigerte er sich, ein Pessimist zu sein. Mittelpunkt seiner Welt-, Menschen- und Gesellschaftssicht war stets das Thema Kommunikation.

Nur noch Historiker und andere  werden in Zukunft Schreiben und Lesen lernen müssen.

Flussers Biographie erklärt seine bemerkenswerte Vielsprachigkeit. Er schrieb seine Texte in Englisch, Französisch, Portugiesisch und Deutsch – seltener in seiner Muttersprache Tschechisch. Dasselbe Thema in verschiedenen Sprachen zu behandeln, hieß für ihn, dieses von verschiedenen Punkten aus zu betrachten. Flusser ließ sich oft von der Etymologie leiten, und mehrere Sprachen boten ihm auch mehrere Ansätze. Er veröffentlichte hauptsächlich auf Deutsch und Portugiesisch. Sein Nachlass, der neben ca. 2500 Typoskripten auch sämtliche erhaltenen Korrespondenzen und viele Tondokumente beinhaltet, befindet sich im Vilém-Flusser-Archiv, das zunächst von dem Medienarchäologen Siegfried Zielinski betreut wurde. Es befand sich von 1998 bis 2006 an der Kunsthochschule für Medien Köln und ist seit 2007 an der Universität der Künste Berlin öffentlich zugänglich, seit 2016 wird es von der Professorin für Kommunikations- und Mediensoziologie Maren Hartmann betreut.

Der Apparat tut, was der Mensch will, aber der Mensch kann nur wollen, was der Apparat kann.

Die Gesamtheit seiner Denkbemühungen betitelt Flusser mit dem Kunstwort „Kommunikologie“, worunter er die Lehre von der menschlichen Kommunikation versteht. Sein Kommunikationsbegriff ist dabei ausufernd und nicht leicht zu fassen. Dürnberger fasst das Kommunikationsverständnis von Flusser in vier wesentlichen Punkten zusammen: Die menschliche Kommunikation ist (1) als Phänomen der Freiheit zu interpretieren, (2) ein existentielles Unterfangen, (3) in ihrer symbolischen Vermitteltheit dialektischer Natur und schließlich (4) mitentscheidend für unseren Standpunkt in und zur Welt.

Was hat zum Beispiel ein Fotoapparat mit einem Verwaltungsapparat gemeinsam? Auf den ersten Blick nichts, und es sieht so aus, als ob wir den gleichen Terminus auf zwei unvergleichliche Dinge anwenden würden. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass der Sprachgebrauch berechtigt ist: Beide, Foto- und Verwaltungsapparat, tendieren, immer automatischer zu funktionieren.

  1. Die Kommunikation des Menschen ist laut Flusser „unnatürlich“. Ihre Künstlichkeit zeigt sich im Besonderen an ihrer symbolischen Vermitteltheit. Flusser versteht das Anhäufen von Informationen nicht als von Gesetzen ableitbaren Vorgang, sondern führt es auf die menschliche Freiheit, d. h. auf den menschlichen Willen zurück.
  2. Die Menschwerdung muss – im Sinne des Existentialismus – als Entfremdung verstanden werden: Der Mensch wird aus der Welt verstoßen (oder er entspringt ihr), d. h., er ist nicht länger wie das Tier in ihr aufgehoben, sondern tritt ihr als fremd gegenüber. Im Geworfensein liegt damit ein Gefühl der Ohnmacht, der Verlorenheit und der Einsamkeit – und gegen diese Stimmung, so Flusser, kommuniziert der Mensch: „Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen.“
  3. Symbole sollen die Kluft, wie sie die Reflexion zwischen Welt und Mensch auftut, überbrücken, indem sie die Welt bedeuten. Sie sollen die Welt darstellen, sie strukturieren und Orientierung schaffen. Symbole sind, so Flusser, ihrem Wesen nach dabei jedoch dialektischer Natur, d. h., ein Symbol besitzt nicht nur das Potential, die Welt darzustellen, es trägt auch die Tendenz inne, die Welt zu verdecken. Für Flusser ist mit diesem Befund die Möglichkeit angesprochen, dass ein Code als System von Symbolen die Welt mehr verdeckt als er sie bedeutet.
  4. Kommunikation ist schließlich laut Flusser mitentscheidend für unseren Standpunkt in und zur Welt. Symbole sind nicht als Spiegel der Wirklichkeit zu verstehen, sie bilden die Welt nicht eins zu eins ab, sondern nehmen in ihrem abstrahierenden Abbilden und akzentuierenden Beschreiben stets eine Konstruktion vor. Diese Konstruktion ist dabei, so Flusser, nicht unabhängig von der Art der Symbole, vielmehr gilt, dass jeder Code eine für ihn typische Prägung mit sich bringt.

Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode.

Flusser geht von einem fünfstufigen historischen Modell aus. Die erste Stufe wird einem Naturmenschen zugeordnet, der in einer vierdimensionalen Umwelt des unmittelbaren und „konkreten Erlebens“ lebt. Die zweite Stufe bezieht sich auf das Interesse des Menschen an Gegenständen, also an einer dreidimensionalen Umwelt. Mit der dritten Stufe wird die zweidimensionale Umwelt prägend für die Kultur: Traditionelle Bilder, die „anschaulich und imaginär“ sind, schieben sich zwischen den Menschen und seine Lebenswelt. Seit etwa viertausend Jahren sind lineare Texte zunehmend kulturprägend. Diese Art der Vermittlungstechnik von Informationen, bei der ein „Begreifen mittels Begriffen“ ermöglicht wird, lässt eine eindimensionale Umwelt entstehen. Die heutige Gesellschaft befindet sich auf dem Weg in eine nachalphabetische Phase der nulldimensionalen technischen Bilder, bei der die Texte ihre Funktion verlieren. Diesen gegenwärtigen „Umbruch der Codes“ charakterisiert Flusser als eine Situation der Krise. Wobei Flusser nicht nur die Herausforderungen, sondern ebenso die Produktivität eines solchen Umbruchs erkennt: In seinem Aufsatz Wonach? versucht er bruchstückhaft Ausblick auf eine neue Wissenschaftlichkeit und Kultur jenseits der Dominanz der Schriftlichkeit zu geben.

In diesem Stufenmodell verweist das Zeichen der höheren Stufe jeweils auf das Erlebte der nächsttieferen Stufe. Ein Bild bedeutet die dargestellten dreidimensionalen Gegenstände; ein Text bedeutet ein Bild, welches seinerseits die Gegenstände bedeutet. Indem der Text den Bildinhalt auf eine Dimension reduziert, kann dieser Inhalt analysiert und kopiert werden.

Den Unterschied zwischen traditionellen Bildern und technischen bzw. „Technobildern“, wie Fotografien, Filmen, Video, statistischen Kurven, Diagrammen und Verkehrszeichen und -symbolen, sieht Flusser auf der Bedeutungsebene: Während traditionelle Bilder Szenen darstellen, bedeuten Technobilder Texte. Ein traditionelles Frauenporträt stellt eine (reale oder fiktive) Person dar; ein Technobild einer Frau dagegen bedeutet einen Satz (oder einen längeren Text), z. B. bedeutet das Technobild einer Frau auf einer WC-Tür: „Dieses WC dürfen nur Frauen betreten!“

Flusser sagt voraus, dass das Alphabet als dominierender Code von den Technobildern abgelöst werden wird. Dadurch würde sich auch die Auffassung von Raum und Zeit ändern, denn der lineare Zeitverlauf und der geometrische Raum sind nur für die Menschen eine Selbstverständlichkeit, die mit Texten aufgewachsen und von Texten geprägt sind.

Bei seinem Informationsbegriff spielt das Konzept der Entropie aus der Physik eine entscheidende Rolle, wobei er Informieren als eine universell-natürliche Verhaltensweise betrachtet. Informieren heißt bei ihm immer, etwas (amorphes Material) in Form bringen, wobei bei diesem Vorgang Energie genutzt wird. Bei der Nutzung von Energie wird allerdings unweigerlich Energie irreversibel zerstreut. Während die Zerstreuung der Energie wahrscheinlich ist, ist der Zustand der Ordnung, also der Information, unwahrscheinlich. Folglich ist Information das Auftauchen des Unwahrscheinlichen und entspricht der Negentropie, einer negativen Entropie.

Er entwickelte eine positive Utopie der zukünftigen telematischen Gesellschaft (Telematik) als Gegenentwurf zu zeitgenössischen pessimistischen Medientheorien und Medienkritiken. Bei dieser Konstruktion nahm er an, dass jede Gesellschaft vom Zusammenspiel zweier Kommunikationsformen geprägt wird:

Dialoge, die Informationen erzeugen, und Diskurse, durch die Informationen weitergegeben werden.

Sieht man die Schriftkultur in ihrer Gesamtheit als eine einzige, dreitausend Jahre lang laufende Zeile, so erkennt man sie als eine Schleife, die von Bildern ausgeht, um zu ihnen zurückzukehren.

Grundsätzlich sind drei Formen der Gesellschaft aus dieser Annahme ableitbar:

  1. Die bisherige „ideale Gesellschaft“, bei der Dialoge und Diskurse sich im Gleichgewicht befinden.
  2. Die „autoritäre Gesellschaft“, bei der die Diskurse dominieren. Das Fehlen der Dialoge zieht eine Informationsarmut nach sich. Diskurse werden nicht mehr durch Dialoge mit Informationen gespeist.
  3. Die zukünftige und „revolutionäre Gesellschaft“, bei der Dialoge überwiegen, welche ständig Informationen erzeugen. Bedingt durch die so entstehende Informationsflut zerbrechen die alten Diskurse. Dementsprechend gibt es in der telematischen Gesellschaft keine Autoritäten. Sie ist, aufgrund ihrer vernetzten Struktur, völlig undurchsichtig und lenkt sich selbst kybernetisch. So wird Telematik von ihm auch als „kosmisches Hirn“ bezeichnet.

Flusser war nicht der Meinung, dass das Auftauchen neuer Medien zu Beeinträchtigungen führe. Vielmehr wies er auf die Gefahr hin, die Chancen, die sich durch die neuen Medien ergeben, zu verpassen.

Geprägt durch sein wechselhaftes Leben betrachtete Flusser Wohnen und Heimat als Zeichen der Gebundenheit des Menschen, der von Natur aus eigentlich Nomade ist. In der Überwindung der räumlichen Distanzen durch die neuen Medien schafft sich der Mensch einen Zugang zu einer neuen Freiheit.

Ich bin davon überzeugt, dass alle tatsächlichen Revolutionen technische Revolutionen sind.

Flusser hat seine eigene Situation als intellektueller Einwanderer in Brasilien in seinem 1994 erschienenen Werk „Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen. Für eine Phänomenologie der Unterentwicklung“ reflektiert. Anders als Stefan Zweig, der ebenso wie Flusser aufgrund der nationalsozialistischen Machtergreifung aus Mitteleuropa emigriert war, sah Flusser sich jedoch nicht als Flüchtling, sondern als Ankömmling, als Immigrant. Seine Lebenslauf berechtigte ihn zu dieser Perspektive, denn er lebte drei Jahrzehnte lang in Brasilien und lernte Land und Leute gründlich kennen. Seine scharfe Beobachtung der brasilianischen Gesellschaft stellt eine der wichtigsten Reflexionen über dieses Land da, nur vergleichbar in ihrem Realismus mit Claude Lévi-Strauss‘ „Traurige Tropen“. Die Grundlage seiner Betrachtungen über Brasilien bildet die Erkenntnis, dass der Fremde, sofern er in der Lage ist, von allen mitgebrachten Klischees abzusehen, nicht etwa eine kulturelle Einheit vorfindet, die durch das Portugiesische begründet und gefördert wird, sondern eine fast amorphe Masse, die sich des Portugiesischen als einer Art Lingua Franca bedient. Aus diesem Grund auch gibt es für den Einwanderer keine andere Barriere als die sprachliche zu überwinden. Für Zweig lag genau darin ein Gegenpol zum Rassismus europäischer Prägung, er postulierte, Brasilien sei „ein Land der Zukunft“. Flusser indes ließ sich nicht täuschen. Auch er verglich die brasilianische Gesellschaft mit den Gesellschaften, die er aus Europa kannte, kam aber zu dem entgegengesetzten Schluss, dass Brasilien noch keine Gesellschaft im eigentlich Sinn entwickelt hatte. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „falschen Oberflächenkultur“ (S. 224), unter der sich stark divergierende Realitäten verbergen. In diesem Sinne geht er weit über Gilberto Freyres „Herrenhaus und Sklavenhütte“ (1936) hinaus, der die Doktrin aufgestellt hatte, Brasilien habe bereits die „Rassendemokratie“ verwirklicht, indem es zu einer harmonischen Vermischung von indianischer, afrikanischer und europäischer Bevölkerung und Kultur gelangt sei. Dieser Ansatz entspringt laut Flusser einer „romantischen Ideologie“ (S. 35), die durch Einwanderungswellen aus dem mittleren Osten, aus Japan und erneut aus Europa im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts ihre Berechtigung verloren habe.

Der Nationalismus ist eben deshalb so attraktiv, weil er verantwortungslos macht.

Flusser hatte eine doppelte Fachorientierung sowohl in die Philosophie als auch in die Kommunikationswissenschaft. Diese Interdisziplinarität kann in der Rolle der menschlichen Kommunikation gesehen werden, welche in Flussers Theorie eine zentrale Bedeutung einnimmt: Der Zweck der Kommunikation liegt darin, den Tod durch Speicherung von Informationen zu negieren. Sie ist ein Akt der Freiheit und hat das Ziel, Codes zu erschaffen, um die Sinnlosigkeit und Einsamkeit des Menschen zu vergessen. Dadurch, dass der Mensch die Bedeutungslosigkeit seines zum Tod verurteilten Lebens vergessen will, wird er ein geselliges Tier, ein zoon politikon. Die Kommunikation ist somit ein intentionaler, dialogischer und intersubjektivischer Akt, da der Mensch nicht einsam und allein leben kann.

Türen sind Mauerlöcher zum Ein- und Ausgehen. Man geht aus, um die Welt zu erfahren, und verliert sich dort drinnen, und man kehrt heim, um sich wiederzufinden, und verliert dabei die Welt, die man erobern wollte.

 

 

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KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommen­tie­rung der Welt­lage zur Dauer­beschäf­tigung erhob. Seine Zeit­schrift „Die Fackel“ war gewisser­ma­ßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.