Erinnerung an ein Wiener Faktotum

 

Ein Zeitgenosse aus dem legendären „Café Sport“ der Sechzigerjahre in Wien war der Joe Berger, der mit dem einen Auge; d.h. er hatte schon zwei Augen im Kopf, aber eines war ganz zusammengekniffen und mit dem sah er fast nichts. Mit dem anderen und mit seinen inneren Augen jedoch sah er alles ganz genau und auch sofort. Er sah sogleich jede schöne Frau, die bei der Tür hereinkam; genauso wie jeden „Schweinehund“, den er nicht mochte.  Die feineren Herren, „die feinen Pinkel“ betitelte man sie im „Sport“, die kamen sowieso nicht zu uns nach hinten, zu den dreckigen, stinkenden Tischen, wo wir in zusammengehörenden Gruppen, zwischen denen es oft genug Streit gab, hingelümmelt an den Tischen saßen. Diese „feinen Pinkel“ hatten ihre Plätze vorne beim Ausschank, wo die Frau Chefin, die Frau Reichmann, saß und wie ein Wachhund über alles wachte. Diese feinen Pinkel saßen dort auf manchen Polstersesseln, bekamen zu ihrem Bier ein Glas – wir natürlich nicht, außer man verlangte extra eines, dann schaute einen die Paula verwundert an und schüttelte den Kopf, als wollte sie sagen „der spinnt aber jetzt ganz schön“ – also die feinen Pinkel saßen vorne beim Billardtisch, am anderen Ende des Saales. Und die redeten auch anders miteinander, nämlich reserviert und höflich, und hatten überhaupt ein anderes – sie meinten: ein besseres – Benehmen als wir. Also, der Joe Berger erkannte einen „feinen Pinkel“ sofort. Und der hatte nichts bei uns verloren. Falls er sich bei uns sich anbiedern und niedersetzen wollte, wurde er gleich mit einem „Verschwind!“ aus unserem Bereich verwiesen. Der Joe Berger war ein Weiberheld. Er vögelte alles, was wer kriegen konnte. Und er konnte viele kriegen, trotz seiner vermeintlichen Häßlichkeit, weil er ja ausschaute wie der „Quasimodo“ aus dem „Glöckner von Notre Dame“ in der Verfilmung mit Anthony Quinn. Der Joe Berger pflegte noch dazu diese Häßlichkeit, indem er gerne Grimassen schnitt, auch sein kaputtes Auge dabei einsetzte, selber sogar schrie: „Ich bin der Quasimodo!“ Aber die „Weiber“, wie die „Damen“ genannt wurden, mochten das und mochten ihn, sie waren „spitz auf ihn“, er „hatte ein Leiberl“ bei Ihnen, er konnte sie aufreißen und abschleppen; wohin, das wußte niemand, er fragte aber manchmal gleich und sehr direkt: „Heast, scheene Frau, willst mit mir vögeln?“ Und er hatte damit oft einen überraschenden Erfolg. Was und wo er schrieb, wußte niemand. Er publizierte erst sehr spät, in irgendwelchen obskuren Zeitschriften oder Verlagen. Ich kenne nichts Literarisches von ihm. Ich erinnere mich nur an seinen oft emphatisch hinausgeschrienen Slogan: “Huatela, huatela!“. Was das bedeutete, ob allgemein oder nur für ihn, habe ich nie in Erfahrung gebracht, weiß ich also bis heute nicht. Hätte ich blöd gefragt, hätte ich mir vielleicht eine Watschen oder einen Boxer eingefangen. Also ließ ich das bleiben, ließ ich den Ausruf „Huatela, huatela!“ wie den „Hoppauf-hoppauf“-Anfeuerungsruf im Sport gelten und so im Gedächtnis. Der Joe Berger hatte ein frohes Gemüt. Er lachte oft, laut und gern. Für ihn war es das Selbstverständlichste der Welt, daß er, der Joe Berger, wenn er da war, Mittelpunkt in „seiner Runde“ war. Der Schürrer-Tisch war daneben. Dazwischen war eine unsichtbare Kluft. Der Schürrer war abgründig und eine tragische Figur, der Joe Berger war laut und dominant, ein Inbegriff von Lebenslust und Begeisterung. Er hatte auch ein mitfühlendes Herz, ja, ich würde sogar so weit gehen zu sagen, er hatte ein kindliches, ein sanftes Gemüt. Bei seinem Begräbnis in Kaltenleutgeben, Jahrzehnte nachdem das Café Sport geschlossen hatte und die ganzen Gruppen auseinandergefallen und ins Niemandsland verstreut worden waren, sah man viele alte Kumpel aus der damaligen Zeit des Café Sport. Man begrüßte sich mit „Seavas!“, fragte aber sonst nach nichts, auch nicht mit dem formelhaften „Wie geht’s“, sondern nahm den anderen als selbstverständlich, so wie es schon immer und damals gewesen war. Schweigend gingen wir nebeneinander – eine große Menschenmenge – den Friedhofsberg hinauf. Keine Zeremonie. Genauso wie beim Schürrer-Begräbnis. Aber der Wolfi Bauer hielt eine phantastische, würdigende und sogar würdige Grabrede auf den „Joe“. Dann sank der Sarg in die Grube. Joe Bergers Lebensgefährtin oder Witwe weinte, man kondolierte ihr, so man sie kannte. Dann gingen wir alle in ein Wirtshaus unten im Ort. Ich saß mit Elisabeth Wäger, die ich nur aus dem Café Sport von damals her kannte und Jahrzehnte nicht gesehen hatte, und mit dem Jazz-Saxophonisten Uzzi Förster, ebenfalls eine Legendenfigur, zusammen. Wir tranken einige Gläser Wein, Schnaps oder Bier auf den „Joe“, der uns nun verlassen hatte, und dann ging wieder jeder seines dem andern unbekannten Weges. Das nächste Mal war ich dann beim Begräbnis vom Uzzi, mit dem ich dort zusammengesessen war; auch einem „Sportler“ von damals, einer längst vergangenen, aber nie vergessenen Zeit.

 

***

Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010

Wiplinger Peter Paul 2013, Phoro: Margit Hahn

 

Weiterführend → KUNO schätzt dieses Geflecht aus Perspektiven und Eindrücken. Weitere Auskünfte gibt der Autor im Epilog zu den Schriftstellerbegegnungen.
Die Kulturnotizen (KUNO) setzen die Reihe Kollegengespräche in loser Folge ab 2011 fort. So z.B. mit dem vertiefenden Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier. Druck und Papier, manche Traditionen gehen eben nicht verloren.