Das biografische Gesicht unter Verschluss

Rue Vieille du Temple, Paris.

Kleine Läden, schmutzige Schaufensterscheiben. Dahinter verhöhnen seltsame Präsentationen den Abstand des Flaneurs zu den Gelassen stiller Rituale. Sie ziehen dich in Intimität, in vertrauliche Zusammenhänge hinein, die man riechen kann. Alles Hingestellte, Ausgestellte, wirkt vorläufig, oder andersherum: wie längt überholt, viel zu lange schon zur Schau gestellt.

Flitterbänder kräuseln Pastell- und Karostoffe, eine zeitlose Mode umschmeichelt proportionierte, etwas abgegriffene Gestelle, Prothesenleiber, Attrappenschönheiten.

Du bist da, in dieser Pariser Kurzatmigkeit, ein weißes Blutkörperchen von zu vielen weißen im anämischen Blutstrom der Stadt.

Ein Insekt im Harz, das, immer noch zappelnd, langsam erstarrt, und ist es einmal ganz fest, ist ein Auge eingesperrt für staunende Augen: Exilträume.

Du parierst einem fremden Blick, den Blick einer Schaufensterpuppe aus der Richtung rue du Tresor, auf der anderen Seite, einer Sackgasse. Die Puppe ist die Nachbildung eines vielleicht 10-jährigen weiblichen Menschenwesens. Das ist der Fleck in deinem Gedächtnis, ein verblassender Fleck, du schämst dich nicht, weil er da ist, sondern weil du jetzt über ihn sprechen willst und es dir unmöglich erscheint, ihn deinen gewohnten Ordnungen preiszugeben, als sei er ein Souvenir oder das Fragment einer schlecht erzählten Anekdote. Du verspürtest ein Unbehagen. Die Sprache hat sich daran gewöhnt, das Fremde als das Exotische zu bezeichnen, zu bezeichnen mit changierenden erotischen Tupfern auf einer etwas brüchig gewordenen, aber immer noch sehnsüchtig Atem holenden Haut.

Das leicht wie nach heftigem Weinen aufgedunsen erscheinende Gesicht der Mädchenpuppe ist von bräunlicher, wie bei Tierfleisch angesengter Färbung,  stark farbige Konturierung seiner Gesichtszüge ersetzt Tiefenschärfe . Nicht einmal die Hände sind richtig gesehen, würde der Künstler sagen, Stummelhände, Stümmelwunder, zu knolligen Fäustchen geballt, den Rundhölzern des Körpergerüstes in Pulshöhe aufgesteckt, von den Flügelärmeln des altbacken unmodischen Kleides freigegeben. In der ersten Sekunde des Vorübergehens, deren Reizantrieb der Verrat, Selbstverrat und deren Wirkdauer wie Luxus ist, Zeitluxus, denkst du an modelliertes Eis, weil dir nichts Besseres einkommt. Du lässt es schmelzen, Eiswasser. Eisluft, Eiserde, das füllt dich langsam leise an. Du wünschst Umnachtung nächtlich schnell. Es wird umsonst sein. Ein negatives Déjà-vu .

Du begannst etwas vor Dich hin zu stammeln. Wer stammelt, bringt meist  noch einen Sinn zustande. Du aber kommst nicht einmal mit diesem Wort zurande: GESICHT, das es gar nicht gibt. Ja, das hast Du versucht zu sagen. Ein leicht irritiertes, vielleicht ein  fremd modelliertes Durchschnittsgesicht: aber darf ich so über ein Kindergesicht sprechen? Du bist ungerecht, siehst etwas, das dir wenig sympathisch ist, aber die brünette Frisur ist so exakt, so authentisch in Wellen gelegt, Sehnsuchtswellen der Kindheit, von denen du weißt, dass sie nicht wieder und wieder zusammenfallen, sondern verstauben werden. Gab es einmal ein Gesicht wie dieses ? Ich muss es entschieden verneinen, weil mich das Grauen bei dieser Vorstellung sanftmütig streift. Weder kann es ein Vorbild geben, noch kann es sich bei dieser Wachsmodellierung um eine Nachahmung oder auch nur um eine dilettantische Nachempfindung handeln. Dieses Gesicht ist die reine Erfindung, und als dieser so selbstverständliche Gedanke mich erreicht hatte, fand ich ihn obszön wie das, was er vorstellte. Gebrochen waren alle seine Züge, gebrochen war dieses puppenhaft künstliche Wesen.

Überraschend bewegte sich hinter der Puppe im angrenzenden Verkaufsraum des Schaufensters eine junge Verkäuferin, und ich erschrak, weil sie ein Mensch war. Auffällig war ihre  Hakennase, sie rauchte eine Zigarette, posierte zwischen den Regalen wie rein  zufällig, und wie ich jetzt erkennen konnte, waren die aus braunem, schweren Holz gebauten Regale angefüllt mit minderwertigen Posamenten, Material, das du in jeder Mülltüte finden kannst, und die junge Verkaufsdame strahlte all die ihrer Aura zur Verfügung stehende Verächtlichkeit für diese Gegenstände ihres vielleicht erzwungenen Berufes aus. Ihr Aufenthalt in dieser trostlosen Szenerie musste einen ganzen Arbeitstag lang und einen immer wieder weiteren Arbeitstag lang vielleicht über Jahre hinweg dunkel und vorläufig bleiben. Würde man, mit dieser Abschreckung im Schaufenster, überhaupt je etwas verkaufen können?

Es gibt Unterschiede zwischen Möbel und Stuhl, Hund und Dackel, Obst und Birne, zwischen Kunst und einem Gedicht. So innig war bei diesem Gesicht, das mich auf seine obszöne Art zu verhöhnen schien, der denkbare Unterschied zum Lebendigen. Durch das Wort ist dieses Phantom allein sprachlich da. Es hat alle Fortschritte in der Literatur einbegriffen, aber wo ist der Fortschritt hingegangen? Als Schritt hat er doch zu irgendwas, zu irgendwem geführt?!: Er ist auf die eigene Biografie zugeschritten, ich habe in dem Schaufenster mein eigenes Gesicht gesehen, mein Kindergesicht, künstlich, aus Wachs, mit Farbe angepinselt und beklebt mit einem Staubmagnet, der gewellten Kunsthaarfrisur. Der Zwang, die Ausweglosigkeit eines Leugnens, das sei nicht ich, erkennen zu müssen und die gleichzeitige, Ekel und Scham erzeugende Abstoßung dieser materialen Erscheinung schraubte mich für lange Augenblicke in den weltstädtischen Boden vor diesem streifig geputzten Schaufenster, hinter dem die Wahrheit mein Einverständnis abforderte. Jetzt, da die Experimentierphase vorbei ist, da die Welt so ist, wie ich sie mir in früher Jugend erdacht habe! Jetzt zeigt sich, wer niemals Meister war, die Dinge beginnen sich zu fügen! Jetzt ist das Skelett da, der Strang, der rote Faden, der sich durch die modellhafte Erinnerung zieht. Dieses Gesicht sagt mir, dass ich, ohne je auf Mitleid zu stoßen, auf eine ungesunde Weise verstört gewesen sein musste, als ich die ersten Zeilen aus Seelenhunger, Seelennot, niedergeschrieben hatte in ein mutmaßlich verschließbares, kunstledernes Tagebuch: Dieses späte Experiment ist eine Jugendsünde! Und sündig ist dieses Gesicht, so schmerzhaft allgemein, so sehr vages Zitat ohne Verfasserangabe, so abtrünnig, so überformt, so leer wie verwüstet und so entsetzlich verloren wie instinktiv verlogen! Um es zusammenzufassen: es war ein gemeines Gesicht in all seiner Unschuld, weil es seiner Zeit voraus war. Wozu aß das stille Kind jahrelang sein braun glänzendes klebriges Sirupbutterbrot zum Frühstück! Welch sinnloses Charakteropfer! Unter den tastenden, spekulativ formenden Händen des Erzeugers muss der Sinn für das Nahbare, das Verzeihbare, das Gefällige verdorben sein. Der Erzeuger hat die Züge dieses gemeinen Gesichtes zur Entfaltung und kurz vor einer ahnbaren Nähe zu etwas Lebendigem in sofortige Lähmung, ja, Vereisung gezwungen. Gesicht über dem Teller, Gesicht über dem Abgrund, Gesicht im Fenster, Gesicht im Traum, Greisinnengesicht, Gesicht vor Gesicht, die Sinne linienverbunden, Gesicht des Jahrhunderts, Gesicht über dem Panamakanal… Was hatte den Verursacher dieses Gesichtes bewegt, während unter seinen Händen ein fades Entsetzen sich formte? Der pubertierend-weibliche Blick: wo endete er? Ich folgte der Richtung, und am Ende der Sackgasse rue du Tresor stand, was ich ängstlich, ja, mit einem still noch gesteigerten Grauen erwartet hatte, das mich beherrscht hatte, seit ich -oder seit mich- die Puppe entdeckt hatte,: am Ende der Sackgasse stand ein alter, steinerne, beschmutzter und angeschlagener, verschlossener und somit toter Brunnen, wie abgestellt,  zu unattraktiv, um als historisch gelten zu können.

Die Gemeinheit ist eine Scherbe, die, aus der großen Vase gebrochen, an den möglichen Bruchstellen schon mit garantiert haftendem Leim bestrichen ist. So scheint jede verletzte Stelle heilbar. Angst schwitzt die angebrochene Kreatur immer aus, die nach einem Gegenstück, dem passenden, um wieder ganz zu werden, verlangt. Vom schmucklosen Brunnen aus, zu dem mich der Puppenblick zwanghaft geführt hatte und vor dessen kraftloser Geschichtsträchtigkeit ich mich dankbar in den Status einer Touristin fügte, sah ich noch einmal zurück. Jetzt stand eine junge Frau vor dem Schaufenster, presste ihr junges, unkontrolliertes Gesicht gegen die Scheibe, unsere Blicke begegneten und verließen einander sofort wieder. An ihrer Haltung konnte ich erkennen, dass sie gänzlich fassungslos war. Ich wusste, dass sie drei Dinge zugleich im Blick hatte: mich, die Schaufensterpuppe, den Brunnen. Dann geschah etwas mit ihr.

Es vollzog sich eine Art Korrektur, nein, Reparatur an einem Insekt, das nach der Katastrophe  langsam im Harz erstarrt.  Und ist es erst einmal ganz fest eingeschlossen, bleibt sein letzter Augenblick Jahrtausende später glücklich eingesperrt für staunende Augen.

 

 

Angelika Janz

Weiterführend → 

Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd