Von einem kleinen Wiener Buch

 

Anatol ist ein Einakter-Zyklus von Arthur Schnitzler. Als Buchausgabe erschien er im Herbst 1892, vordatiert auf das Jahr 1893. Das einleitende Gedicht stammt von Loris, einem Pseudonym des jungen Hugo von Hofmannsthal, der mit Schnitzler befreundet war. Die Stücke wurden einzeln aufgeführt, zu einer gemeinsamen Aufführung kam es erstmals am 3. Dezember 1910 im Deutschen Volkstheater in Wien sowie im Lessingtheater in Berlin.

 

Prolog zu dem Buch ›Anatol‹

Hohe Gitter, Taxushecken,
Wappen nimmermehr vergoldet,
Sphinxe, durch das Dickicht schimmernd …
… Knarrend öffnen sich die Tore. –

Mit verschlafenen Kaskaden

Und verschlafenen Tritonen,
Rokoko, verstaubt und lieblich,
Seht … das Wien des Canaletto,
Wien von siebzehnhundertsechzig …

… Grüne, braune, stille Teiche,

Glatt und marmorweiß umrandet,
In dem Spiegelbild der Nixen
Spielen Gold- und Silberfische …
Auf dem glattgeschornen Rasen

Liegen zierlich gleiche Schatten

Schlanker Oleanderstämme;
Zweige wölben sich zur Kuppel,
Zweige neigen sich zur Nische
Für die steifen Liebespaare,

Heroinen und Heroen …

Drei Delphine gießen murmelnd
Fluten in ein Muschelbecken …
Duftige Kastanienblüten
Gleiten, schwirren leuchtend nieder

Und ertrinken in den Becken …

… Hinter einer Taxusmauer
Tönen Geigen, Klarinetten,
Und sie scheinen den graziösen
Amoretten zu entströmen,

Die rings auf der Rampe sitzen,

Fiedelnd oder Blumen windend,

Selbst von Blumen bunt umgeben,
Die aus Marmorvasen strömen:
Goldlack und Jasmin und Flieder …

… Auf der Rampe, zwischen ihnen

Sitzen auch kokette Frauen,
Violette Monsignori …
Und im Gras, zu ihren Füßen
Und auf Polstern, auf den Stufen

Kavaliere und Abbati …

Andre heben andre Frauen
Aus den parfümierten Sänften …
… Durch die Zweige brechen Lichter,
Flimmern auf den blonden Köpfchen,

Scheinen auf den bunten Polstern,

Gleiten über Kies und Rasen,
Gleiten über das Gerüste,
Das wir flüchtig aufgeschlagen.
Wein und Winde klettert aufwärts

Und umhüllt die lichten Balken,

Und dazwischen farbenüppig
Flattert Teppich und Tapete,
Schäferszenen, keck gewoben,
Zierlich von Watteau entworfen …

Eine Laube statt der Bühne,

Sommersonne statt der Lampen,
Also spielen wir Theater,
Spielen unsre eignen Stücke,
Frühgereift und zart und traurig,

Die Komödie unsrer Seele,

Unsres Fühlens Heut und Gestern,

Böser Dinge hübsche Formel,

Glatte Worte, bunte Bilder,
Halbes, heimliches Empfinden,

Agonieen, Episoden …

Manche hören zu, nicht alle …
Manche träumen, manche lachen,
Manche essen Eis … und manche
Sprechen sehr galante Dinge …

… Nelken wiegen sich im Winde,

Hochgestielte, weiße Nelken,
Wie ein Schwarm von weißen Faltern,
Und ein Bologneserhündchen
Bellt verwundert einen Pfau an.

 

Es sind in diesem kleinen Buch sieben kleine Einakter, sieben kleine sentimentale Szenen.

In allen sieben ein und derselbe junge Mensch und alle die Liebe, die er erleben kann, mit sieben Frauen sieben Nuancen: lachende Lebendigkeit der Liebe und das Zucken, wenn sie sterben will, das schmerzliche und rätselhafte Verglühen und Verbeben, und vieles zart und tief erlebte, was dazwischen liegt.

Der Mensch heißt Anatol; er redet eine natürlichere und lebendigere Sprache, als sie sonst in kleinen Proverbes üblich ist und seine Art, mit der Liebe, »Grau’n und Gräßlichkeiten« schmerzlich cokett und boshaft empfindsam zu spielen, hat einen leisen individuellen Ton.

Er ist ein Dichter, d.h. ein Mensch, der arrangiertes Leben liebt, sich nach allem vergangenen und verlorenen, nach irgendeiner verwehten, naiven duftigen lachenden Leichtigkeit des Lebens sehnt; er ist darum nicht nur ein Dichter, sondern vielleicht geradezu der Wiener Dichter, weil die untereinander nichts zweites so gemein haben, als dieses rätselhafte Heimweh nach süßem, kindischem Glück. Dieses Glück hat die »weiche Anmut eines Frühlingsabends« … es wohnt irgendwo draußen, in der Vorstadt, wo es immer noch so viele Gärten gibt und wo in den warmen Nächten aus den kleinen dämmrigen Zimmern die vielen verwirrenden Geigen tönen. Es wohnt vielleicht auch nur in unserer Sehnsucht nach der Zeit, wo die Schubertlieder jung waren.

Mit dieser Sehnsucht in der Seele lebt er das gemeine Leben von heute, ein sentimentaler Dandy im Stil des Henri Murger; und seine kleinen Geliebten sind manchmal, wie jene rührende Mimi Pinson von 1840, Grisetten in Moll, die in dem trockenheißen amerikanisierten Paris von heute ausgestorben sind. Auch der Stil seiner Gedanken hat etwas leicht französierendes; aber ohne die bittere, grimassierende Traurigkeit der Modernen, die Gavarni und Forain hinter sich haben: alles Dreivierteltakt, wie ein getragener Walzer, in lächelnder Wehmut: Claude Larcher in Lannersche Melodien aufgelöst. Denn diese Wiener Seele atmet zwischen den Zeilen: die schüchtern-sensitive, verträumte des »armen Spielmanns« und des Alt’schen Aquarells. Nicht die andere, brutale, gewaltig gepackte des »Vierten Gebotes«, die manchmal auch aus Schließmannschen Typen deutlich redet. Noch auch die weltliche graziöse des Myrbach und der Ebner-Eschenbach.

Aus diesen drei ungefähr besteht die Wiener Volksseele.

Manches häßliche »Wienerthum«, das nicht aus dem Boden kommt, wird von schlechten Journalisten und widerwärtigen »Volkssängern« verfertigt und der Menge angewöhnt.

Dieser sentimentale Dandy ist, wie gesagt, ein Dichter: seine träumende Seele ist wie der Brunnen im Märchen: »Alle, die du liebst, tauchen darin unter und bringen dir dann einen sonderbaren Duft von Abenteuern und Seltsamkeit mit, an dem du dich berauschst« …

Am Licht der Liebe freuen ihn minder die geraden hellen Strahlen, als was sich am Rande buntfarbig bricht; nicht die großen Erlebnisse, Lieben, Müdwerden, Vergessen, sondern was duftig um diese dämmert und webt; was schattenhaft und unheimlich hinter ihnen steht, wie der Sinn hinter dem Symbol, wie der Alpdruck hinter dem Traumbild: Leben, Sterben, Totsein.

Seine bebend gespannten Nerven erleben in den Erlebnissen der Liebe die eigentlichen tiefen Erlebnisse des Lebens: Lebensdurst und Lebenslügen und Lebensangst.

Beim zweiten Lesen liest sich dieses kleine Buch wie eine unheimliche Allegorie: zwischen den nervös plaudernden kleinen Figuren sieht aus dem Schatten das Medusenhafte des Lebens hervor: das Sinnlose, das Rätselhafte, das Einsame, das taube und tote Nichtverstehen zwischen denen, die lieben; das dumpfe Bewußtsein, wie von Verschuldung; die dämmernde Ahnung versäumter Unendlichkeiten, erstickter, vergeudeter Wunder; und die vielen Dinge, die wie Reif und Rost auf allzufeine Seelen fallen …

 

 

***

Anatol. Sieben Einakter von Arthur Schnitzler. Berlin. Verlag des bibliograph. Bureaus. 1893.

Hugo von Hofmannsthal 1910 auf einer Fotografie von Nicola Perscheid

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