Aufklärung ist eine Erfindung, damit wir uns sicher fühlen

 

Bis der Leichenwagen der Mordkommission kam, kaute der Schleusenwärter an seinen Fingernägeln. Seine Mutter hatte ihm das Knabbern an den Nägeln vor vierzig Jahren abgewöhnt. Hatte Senf auf seine Hände gestrichen. In diesem Moment wünschte sich der Schleusenwärter, sie wäre wieder da, um ihm Senf auf die Augen zu streichen.

Die Polizeibeamten durchkämmten das ganze Schleusengelände. Fanden hinter der Telefonzelle eine weitere Leiche, männlich, keine Ausweispapiere. In seiner Brust steckte bis zum Heft ein Klappmesser. Eine leichte Brise stöberte im schwarzem Haar des Toten.

Verstärkung war angesagt. Sie wollten niemanden übergehen, keinem die Kompetenzen streitig machen und benachrichtigen auch die Beamten der Sonderwache. Gudrun Krawytz riss lustlos die Frühschicht ab und fühlte sich für einen Fall dieser Tragweite nicht zuständig. Sie klingelte ihren Vorgesetzten aus dem Bett.

Martin Tilkowski traf unrasiert und übernächtigt am Tatort ein. Als er seinen alten Kumpel in der Stellage wie ein Pirat im Ausguck hängen sah, klappte er lautlos zusammen.

Spurensicherung. Weiter unten am Kanal fand man eine schwarz gekleidete Punkquette, mit verschmiertem Make–up und aus dem Kopf geweinten Augen, gefesselt mit Bronischewskis Handschellen, wirres Wortgewürfel vor sich her stammelnd. Gutes Zureden nutzte nichts, niemand konnte sie in ihrem lautpoetischen Monolog unterbrechen.

Neben ihr lag ein Struwwelpeter, der ein blutbeschmiertes Shirt mit dem Aufdruck: „Ich trinke, rauche Shit, lese Pornos und bin ständig geil“ trug. Hingerichtet mit einem von hinten aufgesetzten Schuss aus einer Walther PPK.

In unmittelbarer Nähe neben dem Kanal lag eine weitere Frau mit geblümtem Sommerkleid. Der Wind hob kurz das Kleid, rote Spitzenunterwäsche blitzte auf. An ihrem Hals hatte sie zwei knutschfleckige Male.

Fußläufig erreichbar fand man drei weitere Leichen, darunter den vermissten Kollegen Galonska. Die Kollegen hatten Mühe, ihren Chef aufzupäppeln. Schafften es mit frischem Kaffee halbwegs. Martin Tilkowski kam langsam wieder auf die Beine. Er vermaß den Tatort mit unbeholfenen Schritten und erkannte das Gothic–Girl wieder. „Aufklärung ist eine Erfindung, damit wir uns sicher fühlen“. Sie war die einzige, die dieses Massaker aufklären konnte. Für Sharis onomatopoetische Äußerungen wurde ein Gedankenübersetzungsprogramm gesucht, um sie poetopathologisch zu entschlüsseln.

 

 

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.