Gefühlsentleerte Welt

 

Während alle zum Himmel sahen, starrte er auf die Erde. Bronischewskis Laune war ins Bodenlose gesunken. Er hatte vielen Frauen in den Ausschnitt gestarrt, um den Fitzel eines roten BH’s zu sehen. Die Hitze hatte ihn zehn lange Tage lang weich gekloppt, seine Uniform durchweicht und ihm den Rest gegeben. Der erfahrene Polyp schien nicht mehr in der Lage, die Zusammenhänge zu erkennen. Glaubte, sich auf die falsche Spur gesetzt zu haben.

»Eher auf eine kalte Spur!«, fluchte er zornig vor sich hin, wissend, dass es für Morde keinen Grund gibt, weder im Kino, noch im Leben. Sah sie vor seinem geistigen Auge in den roten Miederwaren vor sich stehen. Schön und unverwundbar. Überlegen und kratzbürstig. Die Kirmes neigte sich ihm entgegen, wie ein alter komatöser Freund, der von einer lebenserhaltenden Maschine gezwungen wird, weiterzuatmen, weiterzuatmen und immer wieder weiterzuatmen…

Jacqueline beobachtete den älteren Souverän. Ahmte seinen schwerfälligen Schritt nach. Sich an einen Menschen heran zu schleichen bedeutete, das Opfer bis auf das Skelett zu studieren. Verständnis setzte Reife voraus. Jacqueline besaß nur die Reife des Tötens. In einer gefühlsentleerten Welt, in der es allein um Fassaden und Objekte ging, konnte sie sich nur durch einen ultimativen Akt wie das Töten heraussprengen. Ihr blieb nur mehr eine Chance, in einer aus den Fugen geratenen Welt einen Rest Würde zu bewahren: Sie machte sie zu Kleinholz und legte eine Blutspur entlang des Kanals.

»Hey, Bulle!«, flüsterte sie in das Sprechfunkgerät. Bronischewski blieb elektrisiert stehen.

»Zwo–sieben, hier!«, kam die Antwort. Er drehte sich behäbig um seine Achse.

»Mach‘ ne Fahndung!«

Jacqueline stand hinter einer Säule mit rhythmisch aufleuchteten Glühlampen. Sie wollte ihr Ding durchziehen. Viel Spielraum blieb nicht. „Und jetzt kommt die alte Zirkusnummer von Wissen und Erkennen.“, dachte sie amüsiert und trat aus dem Schatten der Säule hervor.

»Fang‘ mich«, lockte Jackie. Über eine Entfernung von zwanzig Metern sah sie ihm in die Augen. Ihr war klar, dass sich diese Entfernung verringern würde…

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.