Amazone

 

Er war gefangen in den Geschichten aus der Geschichte. Bezaubert durch Gerüche und Gerüchte. Giancarlo fühlte sich für einem kurzen Moment auf einer Opernbühne, schnupperte das Parfum der Frauen… Blieb stehen, ließ sich fallen. Schloss verwirrt die Augen, als sich über das Bild, das er wirklich sah, ein anderes schob. Er dachte druckreif, sein Verstand fräste sich die Worte zurecht: „…ich stelle mir einen langen Weg vor, der sich einen Berg hinaufschlängelt und hoch oben auf dem geräumigen Kogel ist eine Festung, ein Haus, ein Gemäuer unbestimmter Herkunft. Der Weg und die Burg verändern sich ständig, augenblicklich verwandelt sich ihre Gestalt in das Alhambra, dann in ein Spielkasino, und darunter sitzen Menschen wie in einem Biergarten. In der Burg müsste es Zimmer geben. Kammern von strahlender Schönheit und Buden, die Trümmerhaufen sind, Müllplätze, stinkend. Ich wandere durch alle Räumlichkeiten. Bewundere die schönen Kammern. Putze die Hucken, die schmutzig sind und vor Unrat stinken, ich würde aufräumen. Und dir das Brautgemach bereiten.“

»Soll ich jemanden rufen?«, sprach ihn die blonde Ansagerin besorgt an. Giancarlo fühlt den Schwindel, sich zu verlieren, die Entgrenzung.

»Nicht nötig…«, schüttelte er heftig mit dem Kopf. Die bunten Farben drohten auf ihn einzuströmen. »…muss sie nur wiederfinden!«, murmelte er, beinahe für sich selbst. Die Blondine versuchte ihn zu trösten:

»Hat dich wohl schwer erwischt?!?«

»Sie ist wie alle anderen Weiber auch.«

»Wie alle!?!«, erkundigte sie sich mit einem koketten Augenzwinkern. Dunkel setzen sich die E–Loks in Bewegung. „…hätte schon eher weggehen können. Hätte genau an dieser Stelle weggehen können. Hab‘ es nicht getan. Will noch das Feuerwerk…“ Rasselnd brachte er die Züge mit letzter Willenskraft zum Stehen. Sie lächelte immer noch, als er sie ansah. Dann legte die Ansagerin der Losbude ihr Mikrofon aus der Hand. Die Vision verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Er brauchte noch einem Schluck Absynth.

»Wer hat noch nicht, wer will noch mal!?! Die großen Gewinne sind noch in der Lostrommel!! Sie brauchen nur abzuräumen!!!«, kreischte die Verkäuferin in das Mikrophon. Giancarlo versuchte stehen zu bleiben, doch ihre stummen Lippen riefen: Komm! Der Bannstrahl ihrer Augen ließ ihn nicht mehr entkommen. „Der Tag seines Todes in einem Jahr mit 13 Monden wird gefeiert von Frauen mit vertrockneten Brüsten. Sie laufen durch die Zimmer der Burg. Öffnen Türen. In Zimmer 26 liegt ein lebendiger Toter. Er hatte gänzlich andere Augen erhalten: älter und verzweifelter. Der Wiedergänger wollte in einem blühenden Garten sterben, seine Frau hatte ihn vor undenklichen Zeiten mit Händen und Füßen an das nach Orchideen duftende Bett gefesselt. So tot möchte ich ihn auch sehen.“ In seiner Erinnerung winkte ihm Jacqueline mit einer einladende Handbewegung zu. Er musste ihr folgen. Die Maden aus den Kleidern schütteln, den Wurm aus scharfem Stahl abnehmen. Eine Amazone bleckt die Zähne. Dazwischen das blinkende Messer. Er wischte das Bild mit einer Handbewegung von der Stirn.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.