Wegen Betriebsstörung geschlossen

 

In der Woge von Menschenleibern fühlte sich Giancarlo geborgen. Jacqueline griff nach seiner Hand. Das Atmen fiel ihm schwer, trotz der Hitze hatte er am ganzen Körper eine Gänsehaut. Im Nacken hatte es zu kribbeln begonnen.

»Oh Gott…«, stammelte er, »denke ich das alles wirklich… oder denkt es mich?« Es war, als hätte jemand einen Motor gestartet, die logische Seite des Gehirns mit der Bemerkung „Wegen Betriebsstörung geschlossen“ ausgeschaltet. Seine Visionen schoben sich unausweichlich auf die Gleise, ähnlich Güterzügen im Wanner Westhafen. Frachtverkehr: „Sie ist mir unheimlich. Aber sie gehört mir. Ganz. Und wieder fällt eine Made aus ihrem Mund. Sie öffnet die Tasche. Die Made schreit. Sie fällt in die Tasche, wo der Wurm mit den roten Augen und einem weit geöffneten Maul sie empfängt.“ Er legte den Arm um ihre Hüfte und streifte beiläufig ihren verlängerten Rücken.

Jacqueline ließ es geschehen. Registrierte irritiert, dass es ihr nicht unangenehm war. Das war eine Nähe, die sie nicht gewohnt war, eine Sanftheit, die ihr den Atem raubte. „Kann ich mich ihm so hingeben, wie es alle tun?“ Ein kurzes Frösteln überlief ihren Rücken, verwandelte sich in ein ungewohntes Gefühl der Erregung, fast schon ein fernes Gefühl von Verliebtheit. Sie schlenderten Arm in Arm Richtung Kanal. Die meisten Menschen torkelten zur Schleuse. Alle wollten sich auf Crange das Feuerwerk ansehen, sich anschließend bei Steinmeister die Kante geben und im Querschlag abstürzen. Sie blieben stehen. Sahen zum Himmel auf, der von Scheinwerfern abgetastet wurde.

Er fand nicht den Mut, das Naheliegende zu tun: Sie in den Arm zu nehmen, die Haare aus dem Gesicht zu streichen, sie zu küssen. Giancarlo suchte den Refrain seines Unterbewusstseins. Stolperte zappelig neben ihr zur Schleuse, ohne an irgend etwas anderes zu denken, als an ihren vom Schweiß eingeseiften Körper…

Die Kirmes neigte sich ihrem Ende entgegen. Die Menschen hatten Angst vor der Stille, vor dem Dornröschenschlaf, der folgen würde. Der Intermission, der Zeit vor der nächsten Kirmes. Diese Nacht deckte die Wahrheiten zu, die man nur bei Tageslicht erkennen konnte. In diesem rasenden Taumel blieb Giancarlo nichts anderes übrig, als sich kopfüber in den Jungbrunnen Verderben zu stürzen. So wie Stille falsche Annahmen in unbekannte Bahnen lenken kann, so kann es auch übermäßiger Lärm. Er blickte sich gehetzt um. Rollte mit den Augen. Schloss die Lider, um die Bilder seiner Einbildung wegzuknipsen. Seine inneren Stimmen verklangen langsam. Seltsam entfernte Stimmen vom Planetoiden Ganymed. Für einen Augenblick verspürte er noch den Hauch dieser Furcht, doch dann gab es kein Halten mehr.

»Lass es uns…«, flüsterte er. Jacqueline beobachtete ihn. Wusste, er würde ihr Spiel mitspielen. Nach ihren Regeln. »Lass uns etwas tun, von dem wir selbst überrascht sind«, schlug er keuchend vor. Verriet sich zwischen den Atemzügen. Sie genoss die Lust an der kalkulierten Grausamkeit. Hatte höllischen Spaß an der Mischung aus Neugier, Geilheit und Todesangst.

»Liebling…«, hauchte Jacqueline in sein Ohr. Strich mit der Hand über seinen Nacken. Wühlte mit den Fingern in seinem Haar. Güterzüge in seinem Schädel stießen sich von der Rampe ab: „Der Wurm ist gewachsen. Er verschlingt die Made mit einem Biss. Glänzt silbrig in dem schummerigen Licht der Budengasse. Will aus der Tasche heraus. Sie hält ihn immer öfter in der Hand. Seine roten Augen leuchten mich giftig an.“ Sie saugte mit ihren Lippen seine Unterlippe an. Strich mit der Zunge über die Zähne. Öffnete sie mit forderndem Druck, fand seine Zunge. Der Kuss war ein Stück Apfelkuchen, welches sie begierig aß und ihr Appetit auf mehr verursachte. Sie erschrak darüber zutiefst. Verlor die Konzentration. Er kämpfte mit ihrer Zunge, versuchte sie zu fangen, zog sie ein. Biss zu, schnell und hart in die Spitze.

»Werden wir uns wiedersehen?«, erkundigte er sich aus einem Reflex heraus. Jacqueline sah ihm tief in die Augen.

»Vielleicht auf deiner Beerdigung?« Ihre Stirn drückte sich gegen seine. Giancarlo zuckte zurück, holte schnell aus, und seine Hand landete in ihrem Gesicht auf der linken Wange. Sie lachte wild auf und spuckte ihm ins Gesicht.

»Werd‘ mit dir glücklich!«, riet sie ihm zum Abschied. Tänzelte erleichtert von dannen. Das Pochen an den Schläfen hatte nachgelassen. Sie konnte wieder klar denken. Glasklar. Es war riskant. Um sie herum Hunderte von Menschen. Es hatte Thrill. Schärfte all ihre Sinne. Sie ging im Rhythmus der anderen, versuchte sich unsichtbar zu machen.

Giancarlo folgte ihrer Spur. Forderte sie heraus, was sie geil machte. Darauf kam es ihr an. Auf gute Arbeit, auf Präzision. „Seine Einsamkeit ist eine Herausforderung.“ Sie drehte sich kurz um, lächelte ihn an.

Giancarlo legte behutsam eine Hand über seine Augen. Wollte sie nicht schließen. Verlor den Blickkontakt zu ihr in der Menschenmenge. Atmete auf. Lehnte sich gegen den Pfeiler einer Losbude. Stützte sich ab. Nahm den Flachmann aus der Seitentasche, schlürfte die grünen Tropfen. Und hatte immer noch nicht genug.

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.