Café Profittlich

»Ehj, wollen wir gleich noch an den Kanal und dann ins Café Profittlich?«, erkundigte sich Ansgar bei Shari, als sie aus dem Scooter stiegen, griff ihre Hand und wollte sie fortreißen in einen Strudel, in die Nacht der Nächte.

»Dann kannste mich gleich nach Hause bringen«, trompetete Shari und machte einen Ausreisser. „Da ist sie wieder!“, schoss es ihr durch den Kopf, als sie ein geblümtes Sommerkleid in der Menge verschwinden sah. Er folgte ihrem Blick, wusste, dass er nun seine Anstrengungen verdoppeln musste.

»Soll ich dir morgen rote Rosen schicken?«

»100.000 Stück!«

»Kitschkuh.«

»Voll die Ruhrgebietsromantik!« Shari griente ihn an. Sie hatten sich nun lange genug abgecheckt. Now or never.

»Wie wär’s mit ’ner halben E?«, spielte er den Spendablen. Ansgar hatte gut gewirtschaftet, seinen Schnitt gemacht. Die Reserven konnte er lässig als Zugabe drauflegen.

»Jetzt schon nachlegen?«

»Die Schnittmenge muss stimmen!«, erkläre er selbstbewusst bis zur verletzenden Direktheit. Ansgar genoss es, wieder auf bekanntem Terrain zu sein. Hier kannte er sich aus.

»Kann nix passieren?«

»Alles voll im Griff!«, glaubte er. Hier waren sie mitten im Leben. Oder das, was man dafür hielt. Zumindest war hier nicht der Friedhof. Keine Frau in roten Dessous. Unwirsch schüttelte er den Kopf. Er hatte Shari lange genug den Hof gemacht, heute Nacht war die Nacht.

»Is‘ nich‘ gepanscht?«, forschte Shari nach und zeigte die Zuckerschnute. Ansgar zog für einen Augenblick die Luft ein. Ihn verfolgte noch das Bild, wie sich Shari und diese Frau küssten.

»Häufiger als oft und das ist nicht selten!«, kreierte er seinen neuen Meta–Proll, eine Kombination, die nicht auf Anhieb zog. Sie dachte nach oder tat zumindest so; eine junge Stirn legt sich schlecht in Falten.

»Weil: Mehr ist schon genug!?!«, erkundigte sich Shari, und Ansgar begann darüber nachzudenken, ob Shari ihm nicht ein wenig zu… ihm schoss das Wort „dämonisch“ durch den Kopf, obwohl ihm längst klar war, dass es sich um eine Verkleidung handelte. Und trotzdem verwirrte sie ihn, sie verwirrte ihn, weil er sich nie sicher sein konnte, woran er wirklich mit ihr dran war.

Shari nestelte an ihren Klamotten. Zupfte unauffällig ihren Ausschnitt zurecht. Ansgar sah sich um. Ein paar durchgestylte Tussen, mit Goldkettchen behangen, zogen an ihnen vorbei. Eine von ihnen war mit einem goldenen Herzchen an jedem Ohrläppchen verziert, im Arm trug sie einen rosafarbenen Plüschteddy. Der Höhepunkt des schlechten Geschmacks, befand Ansgar, hier sparte er sich das Prädikat totaler Trash, mit dem er sonst sehr freizügig umging und alles und jeden nervte. Er versuchte, seine missmutigen Gedanken zur Seite zu schieben.

Shari hatte den violetten Lippenstift aus ihrem schwarzen Beutel genommen. Bemühte sich, ihren Mund in den Spiegelkästchen der Säulen zu erkennen. Ansgar sah, wie die kleinen quadratischen Spiegelkästchen ihr Gesicht in tausend Einzelteile zerlegten. „Scheiße…“, memorierte Ansgar, „hör‘ Stimmen, hab‘ Hallus, werd‘ von diesem Zeug‘ durchgeschallert.“

»Shari!«, flüsterte er leise in ihr Ohr. Legte seine Stirn auf ihr linkes Schulterblatt. Sie ließ ihn gewähren. Beobachtete fasziniert ihre Spiegelbilder, während auf der Fahrbahn des Autoscooters zwei Wagen zusammenkrachten. Shari zuckte zusammen, schrie lachflashig auf, und ihr Kreischen ging in hysterisches Heulen über.

»Hey Baby, stay cool!« Ansgar legte zärtlich eine Hand in ihren Nacken. Er beruhigte sie mit einem langen, feuchten Kuss. Spürte ihre zittrige Zunge. Hörte Gemurmel von Passanten. Sollten die sich doch um ihren eigenen Dreck kümmern.

»Ehj, ich bin total cool! Schockgefrostet!!«, herrschte sie ihn an. Hatte sich wieder gefangen und war völlig außer sich. Machte sich von ihm los. Stieß ihn fort. Ihre Augen funkelten unter den rabenschwarzen Mascarawimpern.

»Nimm ’ne Valium, bringt dich runter!«, riet er ihr. Ansgar schüttelte den Kopf. Shari’s Lächeln hatte nichts Dämonisches mehr an sich. Wie war er nur auf diesen hinreichend schwachsinnigen Gedanken gekommen?

»Will nicht runter, will weiter ‚rauf«, zeigte sie die Richtung an. Shari sah in den Himmel. Er reichte ihr eine Pille und den Flachmann.

»Komm, nimm ’n Schluck Jägermeister dazu!«

»Will‘ zu den Sternen…«, lamentierte Shari weiter und malte einen Sonnenaufgang.

»Kopf hoch… und jetzt schlucken.«

Shari machte den Mund auf und streckte die Zunge heraus. Schloss die Augen und ließ die Arme ausgebreitet. Ansgar legte ihr die Pille auf die Zunge. Setzte die Flasche an und spülte mit Kräuterlikör nach.

»Ja Doc’…«, sie hustete, »schon im Magen.«

»Ich schieß‘ dir ’ne Rose.«

»Wie roman’…«, sie schluckte, keuchte, hatte Mühe aufzuhören, »… romantisch!«

Ansgar nahm auch eine der weißen Pillen. Er wusste, die Wirkung war eher eine abtörnende.

»Geschäfte erledigt. Steinmeister?«, kotzte er Insidersprache ab, meinte damit den Bierstand mit der Südseedekoration, der immer bummvoll war. Diese Bude genoss bei den Einheimischen einen besonderen Status, weil das Pils immer vorzüglich temperiert war und der Abschleppdienst bestens funktionierte. Deshalb traf sich an dieser Theke alles, was Rang und Namen hatte. Und wer mal gerade nicht da war, der war noch im Kommen.

»Wird mir zuviel gesoffen, da kannste gleich in Querschlag weitergeh’n und dir restlos bis zum Anschlag die Kante geben.«

»Bayernzelt?«

»Hasse einen neben der Kappe!?! Wat soll ich denn beim Herner Jet Set?« Ihre Augenlider ruckten hoch. Tellergroße Augen starrten ihn vorwurfsvoll an.

»Mach du ’n Vorschlag!« Ansgar wollte weg. Wollte sich bewegen. Laufen. Tippelnde Schritte machen. Vielleicht ein Tänzchen wagen?

»Brauch‘ wat zu picken«, murmelte Shari und sah Ansgar erwartungsvoll an. Ansgar spürte ihren Blick beinahe körperlich. Die Pillen brachten sie endlich wieder runter. „Hoffentlich vergisst sie diese Frau, sonst drehe ich ihr die Gurgel zu.“, war er wild entschlossen. Bis zu der Aktion auf dem Friedhof war alles völlig easy gelaufen… seitdem quengelte sie rum.

»Will diese Jacqueline wiedersehen.«

»Bist du voll verblinkert?«

Ansgars rechte Hand krampfte sich zu einer Faust zusammen.

»Sie ist so… so stark«, Shari lächelte ihn luzide an. Ansgar spürte einen Druck im Magen, als ob er dort einen Treffer kassiert hätte. „Oh mein Gott…“, dachte er, „Ich hab‘ mich doch nicht in diese Pussy verknallt?“ Kaum, er wollte Shari, wollte sie mit Haut und Haaren. Wollte sie noch in dieser Nacht.

»Und sie ist so schön!« Shari trieb es auf die Spitze. Sie wusste, dass sie ihn um den kleinen Finger wickeln konnte, wenn sie wollte; ob sie wollte, darüber dachte sie angelegentlich nach. „Hast es ihr nicht gut besorgt, Ansgar!“, meinte er eine Stimme mit leisem Lachen zu hören.

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

Weiterführend →

In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.