Abschreibungskosten

 

Mit langsamen, gleichsam tastenden Schritten verließ Ludwig Bronischewski den Cranger Friedhof. War verunsichert und hatte das Funkgerät an seinem Handgelenk ganz vergessen.

»Ludwig, melde dich…«, quäkte es aus dem Funkgerät. Das war sein Chef Martin Tilkowski, »… alles bei dir in Ordnung?« Bronischewski stellte sich vor, wie sein Vorgesetzter in der Sonderwache saß und ins Sprechfunkgerät sprach. Wie immer musste er den Kopf ein wenig schräg halten, eine Angewohnheit, die ihm aber einmal das Leben gerettet hatte.

»Ja, falscher Alarm. Alles ruhig. Mach‘ jetzt ’ne Runde über die Cranger Kirmes. Meld‘ mich bei den Kollegen am Bayernzelt. Over.«

Die Behauptung der Kollegen von der Polizeisonderwache Crange, er habe im Schatten des Riesenrades seinen ersten Schrei getan, entsprach nicht ganz den Tatsachen, dennoch hatten Ludwig Bronischewski und sein Vorgesetzter Martin Tilkowski eine besondere Beziehung zur Cranger Kirmes. Beide absolvierten ihren 25. Einsatz. Tilkowski seinen 20. als Leiter der Sonderwache. So wie die Kirmes in diesen Jahren ihr Gesicht verändert hatte, so hatte sich auch der Dienst auf Crange verändert. Bevor sie mit ihren Kollegen in die jetzigen Räume der alten Cranger Schule einzogen, war alles mehr oder weniger ein Behelf. Zusammen mit dem DRK und dem Ordnungsamt unter einem Dach war alles professioneller geregelt. Trotz dieser positiven Entwicklung gefiel ihm der Gedanke an die Frau in der roten Unterwäsche ganz und gar nicht. Ludwig Bronischewski hatte schon in den Jahren zuvor Liebespaare aufgeschreckt. Dies gehörte einfach zum Job. Die meisten machten ein glückliches Gesicht, wenn er sie mit einer Verwarnung davonkommen ließ. Sein Instinkt sagte ihm, dass bei diesem Vorfall etwas nicht koscher war.

»Verdammt faul…«, knurrte er vor sich hin. Aus den Augenwinkeln registrierte er eine türkische Jugendgang. Ihre erhitzten Gespräche verstummten respektvoll. Bronischewski grüßte mit einem Kopfnicken. Sie waren nicht älter als seine drei Kinder, für die der Vater beruflich wie privat ein Vorbild war. Kurt, der älteste Sohn, war seit drei Jahren Polizist. Seine 19–jährige Tochter Sabrina machte ein Anerkennungsjahr in einem Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen. Nur Monika, das Nesthäkchen, konnte sich noch nicht so recht entschließen.

Ludwig Bronischewski war ein freundlicher Herr in den besten Jahren. Hatte noch nie seine Dienstwaffe benutzen müssen. Es gab Tage, da bedauerte er dies. An den meisten Tagen war er jedoch heilfroh, es noch nie getan haben zu müssen. Im Grunde seines Herzens war er ein friedliebender Mensch, dennoch beschlich ihn das Gefühl einer Verwundbarkeit, die er nicht genau benennen konnte oder auch nicht wollte. Dieses Gefühl stahl sich langsam, sehr langsam in sein Bewusstsein. Wie ein guter Freund, dem man sagen musste, dass er zu diesem Zeitpunkt unwillkommen ist, weil man gerade dabei ist, seine Koffer für eine lange Reise zu packen, von der man vielleicht nicht zurückkehren wird.

Das alte Schlachtross, mit seiner langjährigen Erfahrung, mit seinen ausgebufften Tricks, ließ seine Gedanken immer wieder zu dieser Frau gleiten. Er blickte durch weltweise Augenringe. In Zeitlupe schlenderte Bronischewski durch einen flirrenden Backofen. „Was ist das Wesentliche? Für mich? Heute abend?“ Er sollte nichts weiter tun, als Streife zu laufen. Sollte nur durch seine Präsenz für Ruhe und Ordnung sorgen. „Die Bürger dieser Stadt haben einen letzten schönen Abend verdient.“ An ihrem Beruf und an Crange liebten Bronischewski und Tilkowski besonders den engen Kontakt zu den Schaustellern und den Bürgern, „für die man hier noch so etwas wie der gute alte Schutzmann an der Ecke ist“. Sie hatten auf Crange die Aufgabe, Jugendliche zur Räson bringen, randalierende Fußballfans in die Schranken weisen, Betrunkene am Taxistand der Rathausstraße in einen Wagen setzen, damit sie die Heimreise antreten konnten. Am nächsten Morgen würden sie mit einem Brummschädel aufwachen und sich vielleicht noch an den großen Bären oder an die Flasche Sekt erinnern, die sie einer auf blond gebleichten Kirmesschönheit schießen wollten. An mehr besser nicht. Reine Routine. Die Jugendgang widmete sich wieder sich selbst und ihren übermütigen Protzereien. Hier war alles im grünen Bereich. Vorläufig.

„Wahrscheinlich ist diese Kanaille mit ’ner EC–Karte, Schecks, dem Mobiltelefon und dem Inhalt des Portemonnaies verschwunden. Und tschüss.“ Abschreibungskosten.

Instinktiv hielt er inne und atmete zwei, dreimal tief durch. Was er roch, war der Geruch von Bratäpfeln, gebrannten Mandeln und Zuckerwatte. „Ach wat, du machst dich völlig unnötig verrückt…“, dachte er, „ du hast sie bei einem flotten Dreier erwischt. Und sonst nichts!“ Er hätte sich gern davon überzeugt, blieb stehen und überlegte, ob er sich nicht ein Eis kaufen sollte. Es war heiß, so gottverdammt heiß, dass einem die absonderlichsten Gedanken durch den Kopf schossen. „Aus dem Mief der Provinzexistenz erwächst das wahre Grauen. Orgien ordinärer Enthemmung. Schlägereien sind an der Tagesordnung. Taschendiebstahl völlig normal. Bierkampflaune schlägt schnell in Gewalt gegen Außenseiter um. Enttäuschte Fußballfans wollen das Bayernzelt zertrümmern. Aufgescheuchte Liebespaare verdecken ihre Blöße. Betrogene Ehemänner müssen beruhigt werden…“

Das verunglückte Grinsen verblasste auf seinem Gesicht. Er dachte an eine Frau in roter Unterwäsche mit langem schwarzen Haar, Augen, die glühten wie Kohlen, die er bei einem Dreier erwischt hatte und die so eiskalt blieb. Sie war zu ruhig geblieben. Hatte keine Worte der Entschuldigung wie andere, die er ertappt hatte, gefunden. War auch nicht ausfallend geworden. Nicht verbal. Sie hatte ihn nur kurzerhand ausgeknockt. Ludwig Bronischewski wog 190 Pfund. Sie hingegen bei einer Größe von 170 cm vielleicht 120 Pfund, war verdammt gut austrainiert, hatte eine explosive Schlagkraft.

»Martin, bist du noch dran?«, fragte er zögerlich, in der Weise eines kleinen Schuljungen, in sein Sprechgerät.

»Hier Tilkowski. Was gibt es, Ludwig?«, gab sich der Einsatzleiter sachlich.

»Ich glaube, wir werden heute noch eine…«, er stockte und verbat sich das Wort Überraschung. Räusperte sich. Hielt die Verbindung. Ließ den Apparat schnarren. Wähnte sich einer kalten Wahnsinnigen auf der Spur. Aus der Perspektive eines sozial versorgten Wohlstands hatte dies keine Relevanz. Er verfügte über keinen zwingenden Beweis und musste sich auf ein Spiel aus Zufall und Notwendigkeit einlassen. Versuchte noch einmal neu anzusetzen:

»Martin… du… ich habe ein Scheiß–Gefühl!«

Tilkowski schluckte hörbar. Diesen Satz hatte er schon einmal von seinem Kumpel gehört. Dieser Satz und seine schräge Kopfhaltung hatten ihm bei einem Einsatz bei der Bochumer Streife das Leben gerettet, als sie einen Einbrecher stoppten, der in das Reihenhaus des Sammlers Prof. Murnau eingestiegen war, um dort Antiquitäten und einen Kandinsky mitgehen zu lassen. Es kam zu einem Schusswechsel, damals, Bronischewski blieb sachlich, und wartete gelassen, bis der Einbrecher sein Magazin leergeschossen hatte. Der Einbrecher benahm sich filmreif, warf die Knarre wie ein benutztes Einwegfeuerzeug weg und wollte türmen…

»Hab‘ verstanden. Lass‘ dich umgehend bei mir blicken. Ende.«

 

 

Fortsetzung folgt.

***

Massaker, ein Cranger-Cirmes-Crimi von Barbara Ester und A.J. Weigoni, Krash-Verlag 2001

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In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen. Der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Dem Begriff Trash haftet der Hauch der Verruchtheit und des Nonkonformismus an. In Musik, Kunst oder Film gilt Trash als Bewegung, die im Klandestinen stattfindet und an der nur ein exklusiver Kreis nonkonformistischer Aussenseiter partizipiert. Lesen Sie auch das Kollegengespräch von A.J. Weigoni mit dem echten Bastei Lübbe-Autor Dieter Walter. Eine Würdigung von Massaker durch Betty Davis lesen Sie hier. Die Hörfassung unter dem Titel Blutrausch hören Sie in der Reihe MetaPhon. Als Tag für die Vorstellung dieses Cranger-Cirmes-Crimis war der 11. September 2001 vorgesehen.